Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
bereits als normal an. Und ihre Arbeit natürlich als nützlich. Als ehrenvoll sogar. Und andre wieder haben sich wohl erst gar nicht einleben müssen: Die waren von Haus aus so.
Diese Auslese läßt darauf schließen, daß der Prozentsatz der herzlosen und grausamen Menschen unter den Lagermeistern wesentlich höher ist als bei einer willkürlich gewählten Bevölkerungsgruppe. Und je länger einer bei den Organen gedient hat, ohne Unterbrechung und mit vielen Belobigungen, mit desto größerer Wahrscheinlichkeit ist er ein Bösewicht.
Die Ähnlichkeit des Lebenswegs und der Position: ob sie die Charaktere einander ähnlich werden läßt? Im allgemeinen – nein. Bei Menschen, die mit Geist und Verstand begabt sind – nein, die treffen ihre Entscheidungen, besitzen Eigenarten, allemal unerwartete und überraschende. Die Lagermeister jedoch, die die strenge negative Auslese bestanden haben, im Sittlichen und im Intellektuellen, zeigen eine verblüffende Charaktergleichheit, so daß es uns kaum große Mühe kosten wird, die wesentlichen gemeinsamen Züge herauszuarbeiten.
Dünkelhaftigkeit. Er lebt auf einer abgesonderten Insel, ist kaum in Verbindung mit der fernen, externen Macht und auf dieser Insel zweifellos der erste Mann: Alle Seki und auch die Freien sind ihm demütig untertan. Hier trägt er den größten Stern auf den Schulterstücken. Seine hiesige Macht ist ohne Grenzen und ohne Fehl: Jede Beschwerde wird verworfen, jeder Beschwerdeführende bestraft. Er besitzt auf der Insel das beste Haus. Das beste Fahrzeug. Für die rangnächsten Lagermeister aus seiner Umgebung fällt auch noch ein gehöriges Stück Macht ab. Da sie aber alle aus ihrem ganzen bisherigen Leben kein Quentchen kritisches Urteilsvermögen mitbekommen haben, ist es ihnen wirklich unmöglich, sich anders als eine besondere Rasse, die Rasse der geborenen Herrscher zu verstehen. Daraus, daß ihnen niemand zu widerstehen vermag, ziehen sie den Schluß, daß sie äußerst weise regieren: Das ist ihr Talent (das «organisatorische»). Jeder Tag und jedes Alltagsgeschehen liefert ihnen den anschaulichen Beweis ihrer Überlegenheit: Wo sie sich zeigen, stehen die Leute auf, stehen die Leute stramm und machen einen Buckel zur Begrüßung, und wenn wer gerufen wird, dann kommt er im Laufschritt heran und zieht sich, um den Befehl auszuführen, im Laufschritt zurück.
Aus der Blasiertheit resultiert unbedingt Dummheit, Stumpfheit. Ein zu Lebzeiten Vergötterter weiß alles besser, er braucht nichts zu lesen, zu lernen, und es gibt niemanden im Erdenrund, der ihm etwas Überlegenswertes mitteilen könnte. Und wenn so ein Kudlatyj (Kommandant einer Ust-Wym-Außenstelle) beschließt, daß die hundertprozentige Erfüllung der staatlichen Normen noch keine echte Normerfüllung ist, sondern durch seine (im Kopf ausgeknobelten) Schichtaufträge ergänzt werden müsse, widrigenfalls die Arbeitsleute auf Strafration gesetzt würden, dann besteht keine Aussicht, ihn davon abzubringen. Die Leute schaffen hundert Prozent und bekommen alle nur die kleine Ration. Im Arbeitszimmer des Kudlatyj türmen sich die Lenin-Bände. Den herbeigeholten Wassilij Wlassow belehrt er: «Schauen Sie, da schreibt Lenin, wie man mit Parasiten umgehen muß.» (Unter Parasiten versteht er die Häftlinge, die lumpige hundert Prozent geschafft haben, unter Proletariat – sich selbst. Das sitzt schön beieinander in seinem Kopf: Dies hier ist mein Lehen, und ich bin ein Proletarier.)
Und dann: Die alten Gutsbesitzer waren ihnen an Bildung haushoch überlegen; von denen hatten viele in Petersburg, manche sogar in einem fernen Göttingen studiert. Aus denen sind auch mal Axakows, Radischtschews, Turgenjews geworden. Und unsere MWDler? Undenkbar, daß ihre Institution was hervorbringen könnte! Nie und nimmer.
Selbstherrlichkeit, Eigensinn, Verbohrtheit. Darin stehen die Lagermeister den schlimmsten feudalen Despoten des 18. und 19. Jahrhunderts nicht nach. Ungezählt sind die Beispiele sinnloser Verordnungen, deren einziges Ziel darin besteht, Macht zu zeigen. Je weiter wir nach Sibirien und in den Norden vordringen, desto mehr werden wir davon entdecken.
In allen Lagerkommandanten sitzt die Gewißheit, ihr Lager zu Lehen bekommen zu haben. Sie verstehen es nicht als Teil irgendeines staatlichen Systems, sondern eben als Leihgut, das ihnen für die Zeit ihrer Kommandantschaft zur ungeteilten Herrschaft überantwortet worden ist. Daraus nehmen sie sich die Freiheit, nach Belieben
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