Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
ihnen den gewünschten Lohn zu zahlen, ziehen sie fort – aber nicht in die Welt hinaus, sondern unbedingt in eine ebensolche Lagereinzugszone; anders zu leben, verstehen sie nicht.
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Wir bauen
Und nun, da dies alles über die Lager gesagt worden ist, eine Frage – sie brennt einem geradezu auf den Lippen: Nun mal zur Sache! War sie überhaupt nützlich, die Sträflingsarbeit für den Staat? Und wenn sie unnütz war: Hat’s überhaupt dafürgestanden, den ganzen Archipel vom Zaun zu brechen?
In den Lagern, unter den Seki, waren beide Standpunkte vertreten, liebend gern stritten wir über dieses Thema.
Natürlich: Wollte man den Führern glauben, gab es darüber nichts zu streiten. Genosse Molotow, einstens zweiter Mann im Staate, äußerte sich, die Ausnutzung der Häftlingsarbeit erörternd, auf dem VII. Sowjetkongreß wie folgt: «Wir haben dies früher getan, tun es jetzt und werden es fürderhin tun. Es ist vorteilhaft für die Gesellschaft. Es ist nützlich für die Verbrecher.»
Nicht für den Staat ist es von Vorteil, hört! hört! – sondern für die Gesellschaft! Und für die Verbrecher ist es nützlich. Und wir werden es fürderhin tun. Worüber gäbe es da noch zu streiten?
Als ob uns nicht schon der in allen Stalinschen Jahrzehnten geübte Grundsatz, zuerst ein Bauwerk zu planen, dann die Verbrecher dafür aufzutreiben, den Beweis erbracht hätte, daß die Regierung bezüglich des wirtschaftlichen Vorteils der Lager anscheinend keine Zweifel hegte. Die Ökonomie schritt der Justiz voran.
Offensichtlich verlangt die Frage jedoch nach Präzisierung und Aufschlüsselung:
Machen sich die Lager im politischen und sozialen Sinne bezahlt?
Machen sie sich wirtschaftlich bezahlt?
Sind sie kostendeckend? (Trotz scheinbarer Ähnlichkeit der zweiten und dritten Frage besteht da ein Unterschied.)
Auf die erste Frage fällt die Antwort leicht: Für Stalins Zwecke waren die Lager eine wahre Fundgrube, bester Ort, um Millionen hineinzujagen – der Abschreckung wegen. Politisch machten sie sich mithin bezahlt. Gewinnbringend-nützlich waren die Lager außerdem für eine riesengroße soziale Schicht, nämlich die unzählbare Legion der Lageroffiziere; die Lager boten ihnen den «Militärdienst» im sicheren Hinterland, Sonderzuteilungen, beste Besoldung, Uniformen, Wohnungen, eine Stellung in der Gesellschaft. Zuflucht fanden darin auch die Scharen der Aufseher, die bulligen Bewacher, die auf Wachttürmen duselten, während Dreizehnjährige, Kinder noch, in die Gewerbeschulen getrieben wurden. All diese Parasiten haben mit all ihren Kräften den Archipel unterstützt, dieses Raubnest der feudalherrschaftlichen Ausbeutung. Die allgemeine Amnestie fürchteten sie wie den Schwarzen Tod.
Doch wir haben bereits begriffen, daß in die Lager bei weitem nicht nur Andersdenkende, nicht nur jene gestopft wurden, die aus der Herde ausbrachen und den von Stalin gewiesenen Weg verließen. Die Häftlingsaushebung überstieg eindeutig den politischen Bedarf, überstieg die Erfordernisse des Terrors, war den wirtschaftlichen Vorhaben angepaßt (mag sein, nur in Stalins Gehirn). Ob die Lager (und die Zwangsverschickungen) nicht gar geholfen haben, die katastrophale Arbeitslosigkeit der zwanziger Jahre zu überwinden? Seit 1930 wurden nicht die Kanalbauten für die schlummernden Lager erfunden, sondern im Eiltempo Häftlinge für die geplanten Kanäle zusammengekratzt. Nicht die Zahl der reellen «Verbrecher» (oder sogar der «zweifelhaften Personen») bestimmte von nun an die Tätigkeit der Gerichte, sondern die Bestellungen der wirtschaftlichen Instanzen. Der Weißmeer-Ostsee-Kanal war kaum begonnen, als sich sofort eine Arbeitskräfteknappheit bemerkbar machte, die sich mit den Solowki-Häftlingen allein nicht decken ließ; nun erkannte man, daß drei Jahre für Achtundfünfziger eine zu kurze, zu unrentable Frist waren und es mehr einbrachte, wenn man ihnen die Strafe gleich für die Dauer von zwei Fünfjahresplänen zumaß.
Den nun erwiesenen wirtschaftlichen Nutzen der Lager, die Anwendungsbereiche der Sträflingsarbeit, hat schon Thomas Morus, der Urgroßvater des Sozialismus, in seiner Utopia abgesteckt. Wo erniedrigende und besonders schwere Arbeiten zu leisten waren, die im Sozialismus freiwillig niemand anpacken würde – war der Einsatz von Sträflingen angezeigt. In entlegenen, wilden Gegenden, wo man sich viele Jahre lang den Bau von Wohnungen, Schulen, Krankenhäusern ersparen wollte – kam der Sträfling
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