Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
nicht aus! – einen jungen MWDler, der eben erst die Sonderschule in Tawda absolviert hatte und sich nun an seinen ersten Arbeitsplatz bei der Irkutsker Lagerverwaltung begab. Ich spielte ihm den teilnahmsvollen Trottel vor, und er erzählte mir über das Praktikum, das sie in modernen Lagern machten, und über die so unverschämten, kaltherzigen und hoffnungslos verdorbenen Häftlinge. Auf seinem Gesicht hatte sich die beständige Grausamkeit noch nicht eingraviert, dafür aber zeigte er mir die gravitätische Aufnahme des dritten Jahrgangs ihrer Schule von Tawda, nicht nur Grünschnäbel darunter, sondern auch alte Hasen von Lagermeistern, die ihre Bildung (in Hundedressur, Spurensicherung, Lagerkunde und Marxismus-Leninismus) schon mehr der Rentenaufbesserung als des Dienstes wegen vervollständigten – und obwohl ich doch gewiß einiges gewöhnt bin, schrie ich beinahe auf. Die Finsternis der Seelen bricht in den Gesichtern durch! Wie geschickt man sie doch aus der Menschheit ausgewählt hat!
Ich fühle indes, daß meine Erzählung eintönig wird. Mir schwant, daß ich mich wiederhole. Oder haben wir schon irgendwo darüber gelesen? …
Halt! Man will mir was entgegnen! Gewiß, sagt man mir, einige Tatsachen sind nicht zu bestreiten … Doch es fällt dies hauptsächlich auf Berija zurück … Warum wollen Sie uns keine lichten Beispiele zeigen? Nicht auch gute Typen beschreiben? Ach, zeigen Sie sie uns doch, unsere netten Betreuer …
Onein, die mag euch einer zeigen, der sie auch gesehen. Mir sind keine untergekommen. Ich hab ja bereits geschlußfolgert, daß ein Lager-Natschalnik nicht gut sein konnte, denn es hätte ihm dieses Gutsein das Genick gebrochen oder ihn den Arbeitsplatz gekostet.
Die Lageraufseher gelten als untere Kommandokader des MWD. Sie sind die Spieße des GULAG. So lautet auch ihr Auftrag: zu schleifen und zu schnappen. Sie stehen auf derselben GULAG-Leiter, freilich um einige Stufen tiefer. Von Jahr zu Jahr werden sie härter in ihrem Dienst, und schon findest du keinen Schimmer von Mitleid auf ihren Gesichtern. Mitleid? Mit den Häftlingen, den durchnäßten und frierenden, den hungernden, müden und sterbenden? Die Aufseher möchten es gern ihren Offizieren gleichtun und ahmen sie in Verhalten und Charakter nach, doch der goldene Aufputz, der fehlt, und ihre Uniformen sind schmuddelig, und alle Wege heißt’s zu Fuß erledigen, und lagereigenes Personal steht ihnen nicht zu, müssen also höchstpersönlich im Garten buddeln und auch ihr Vieh ganz allein versorgen. Natürlich, für einen halben Tag läßt sich schon mal ein Sek aus dem Lager herbeizitieren, der hackt dir das Holz und schrubbt dir die Böden, verboten ist’s ja nicht gerade, aber trotzdem: Übernimm dich nicht dabei!
Im Betrieb, ja freilich, da kann man einen Sek schon zwingen, einem mal zwischendurch eine «kleine Gefälligkeit» zu erweisen, etwas zu löten, zu schweißen, zu drechseln, zu schmieden. Aber wie das Zeug rausschmuggeln? Ein Schemel, das geht gerade noch, aber was Größeres? Diese Beschneidung ihrer Diebsgelüste trifft die Aufseher, namentlich ihre Frauen, besonders hart, viel Bitterkeit speichert sich von daher gegen die Obrigkeit auf, das Leben erscheint ihnen bald als eine ganz große Ungerechtigkeit, und es beginnen in der Aufseherbrust zwar nicht gerade Saiten zu tönen, aber doch irgendwelche Hohlräume aufzubrechen, in denen ein menschliches Stöhnen Widerhall findet. Und es sind die unteren Aufseher bisweilen befähigt, mitfühlend mit den Seki zu sprechen. Nicht oft geschieht es, aber doch nicht gar so selten. Jedenfalls ist es möglich, in einem Aufseher – sei’s im Gefängnis, sei’s im Lager – einem Menschen zu begegnen, jeder Häftling kann über derlei berichten. Und fast keiner über einen menschlichen Offizier.
Im Grunde ist es das allgemeingültige Gesetz vom umgekehrten Verhältnis zwischen sozialer Stellung und Menschlichkeit.
Einen besonderen Abschnitt in der Geschichte des Lagerwachdienstes bildet die Eigenbewachung. Es war ja schon in den ersten nachrevolutionären Jahren verkündet worden, daß die Selbstbeaufsichtigung zu den Pflichten der sowjetischen Häftlinge gehöre.
Wir wollen nicht behaupten, daß dies eigens in der teuflischen Absicht ausgeklügelt wurde, das Volk moralisch zu zersetzen. Wie in unserer fünfzigjährigen Geschichte gang und gäbe, kam es auch hier zu einer gleichsam natürlichen Verflechtung der hehren Theorie und der schleichenden
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