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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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dieser Welt.
    Unser letzter Gefängnishimmel war unendlich hoch und unendlich klar, sogar in Weiß übergehend das Blau.
    Alle (außer den Gläubigen) beginnen wir auf die gleiche Weise: Fahren uns vergeblich in die Haare, um sie vom Kopf zu reißen – er ist ja kahl geschoren! … Wie konnten wir nur? Wie war das möglich, daß wir unsere Denunzianten nicht sahen? Wie war es möglich, daß wir unsere Feinde nicht sahen? (Und wie wir sie hassen! Wie wir vergelten möchten!) Welche Unvorsichtigkeit! Blindheit! Wieviel Fehler! Wie sie gutmachen? Ich muß sofort damit beginnen! Ich muß schreiben … sagen … melden …
    Nichts muß ich. Und nichts rettet mich.
    Es beginnt der Transport. In die Gedanken an das Lager mischen sich jetzt gern Erinnerungen an die Vergangenheit: Wie gut wir gelebt haben! (Selbst wenn wir schlecht gelebt haben.) Aber wieviel ungenützte Gelegenheiten! Wieviel ungepflückte Blumen! … Wann werde ich das alles nachholen? … Wenn ich nur am Leben bleibe – oh, wie anders, wie vernünftig werde ich dann leben! Der Tag deiner Befreiung – er strahlt dir wie die aufgehende Sonne!
    Daher die Konsequenz: am Leben bleiben! Um jeden Preis!
    Das ist bloß eine Redewendung, eine Redegewohnheit: «um jeden Preis».
    Aber diese Worte füllen sich mit ihrem vollen Sinn und ergeben einen schrecklichen Schwur: überleben «um jeden Preis» !
    Und wer diesen Schwur tut, wer von seinem blutroten Schein nicht zurückschreckt, für den hat das eigene Unglück alles Gemeinsame und alles andere auf der Welt verfinstert.
    Das ist die große Wegscheide des Lagerlebens. Von hier führen die Wege nach rechts und nach links, der eine führt bergauf, der andere bergab. Gehst du nach rechts, verlierst du das Leben, gehst du nach links, verlierst du das Gewissen.
    Der Selbstbefehl Am Leben bleiben! ist natürliches Sichaufbäumen des Lebenden. Wer möchte nicht am Leben bleiben? Wer hat nicht das Recht, am Leben zu bleiben? Anspannung aller Kräfte des Körpers! Befehl an alle Zellen: am Leben bleiben! Er erzeugt eine gewaltige elektrische Ladung in unserem Brustkorb, das Herz ist von einer geladenen Wolke umgeben, daß es nicht stillstehe. Über Polareis, im Schneesturm, werden dreißig ausgemergelte, aber sehnige Häftlinge fünf Kilometer weit in die Banja geführt. Die Banja verdient kein freundliches Wort, in fünf Schichten waschen sich je sechs Männer, die Tür führt direkt in die eisige Kälte hinaus, und dort warten vier Schichten, vor oder nach dem Waschen, weil sie ohne Konvoi nicht zurückmarschieren dürfen. Sie haben keine Lungenentzündung, nicht einmal Schnupfen. (So wusch sich zehn Jahre hindurch ein alter Mann, der zwischen dem fünfzigsten und sechzigsten Lebensjahr seine Haft absaß. Und dann war er frei, wieder zu Hause. Umhegt und umsorgt, verbrannte er innerhalb eines Monats. Der Befehl Am Leben bleiben! galt nicht mehr …)
    Einfach am Leben bleiben heißt jedoch noch nicht: um jeden Preis. Um jeden Preis – das heißt: um den Preis des andern.
    Bekennen wir die Wahrheit: An dieser großen Weggabelung, an dieser Seelenscheide wendet sich nicht der größere Teil nach rechts. Leider, nicht der größere. Zum Glück sind es aber auch nicht nur Vereinzelte. Es sind viele, die diesen Weg gewählt haben. Aber sie posaunen es nicht aus. Man muß näher hinsehen, um sie zu erkennen. Dutzende Male wurden sie vor die Wahl gestellt, aber sie wußten ihren Weg.
    Arnold Susi zum Beispiel, der mit ungefähr fünfzig Jahren ins Lager kam. Er war nie gläubig, aber er war immer grundanständig gewesen, hatte nie ein anderes Leben geführt – und beginnt auch im Lager kein anderes. Er ist ein Westler, also doppelt ungeeignet, kommt ständig zu Schaden, gerät ständig unter die Räder, er arbeitet bei den Allgemeinen, er sitzt in der Strafzone – und überlebt, überlebt als genau derselbe, als der er ins Lager gekommen ist. Ich kannte ihn am Anfang, ich kannte ihn danach, ich kann es bezeugen. Allerdings begleiteten ihn drei wichtige erleichternde Umstände durchs Lagerleben: Er galt als Invalide, er bekam mehrere Jahre hindurch Pakete, und er besserte dank seiner musikalischen Fähigkeiten seine Ration durch künstlerische Darbietungen etwas auf. Aber diese drei Umstände können nur erklären, warum er am Leben blieb. Wären sie nicht gewesen, wäre er gestorben, aber er hätte sich nicht geändert. (Und die, die gestorben sind, vielleicht sind sie gestorben, weil sie sich nicht geändert

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