Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
haben?)
Taraschkewitsch, ein ganz einfacher und argloser Mensch, erinnert sich: «Es hat viele Häftlinge gegeben, die für eine Brotration oder einen Schluck Machorkarauch bereit waren, die Stiefel zu lecken. Ich war dem Verrecken nahe, bin aber in meinem Inneren rein geblieben: Ich habe Weiß immer Weiß genannt.»
Daß das Gefängnis den Menschen tiefgreifend verändert, ist schon seit vielen Jahrhunderten bekannt. Es gibt dafür zahllose Beispiele, solche wie Silvio Pellico: Nach acht Jahren Gefängnis war aus einem fanatischen Carbonaro ein demütiger Katholik geworden. Bei uns denkt man dabei immer an Dostojewski. Man kann streiten, ob das gut für die Revolution ist, aber immer führen diese Veränderungen zu einer Vertiefung der Seele. Ibsen schreibt: «An Sauerstoffmangel verkümmert auch das Gewissen.» Ah, nein! So einfach ist das nicht! Sogar eher umgekehrt! Zum Beispiel General Gorbatow: Im Feld seit seiner Jugend, Karriere in der Armee, zum Nachdenken war da wenig Zeit. Dann landete er im Gefängnis, und – wie gut – in seiner Erinnerung begannen verschiedene Begebenheiten aufzutauchen: wie er einmal einen Unschuldigen als Spion verdächtigte; wie er ein anderes Mal einen völlig unschuldigen Polen erschießen ließ. (Wann hätte er sich sonst erinnert? Vielleicht erinnerte er sich nach seiner Rehabilitierung schon nicht mehr so recht daran?) Über diese seelischen Wandlungen der Gefangenen wurde genügend geschrieben, das wurde schon in den Rang einer Gefängniswissenschaft erhoben: Zum Beispiel schreibt Lutschenezki im vorrevolutionären Gefängnisboten : «Finsternis macht den Menschen empfindlicher gegenüber Licht; erzwungene Untätigkeit weckt im Menschen das Verlangen nach Leben, Bewegung, Arbeit; Stille veranlaßt ihn, sich tief in sein eigenes Ich hineinzudenken, in seine Umwelt, seine Vergangenheit und Gegenwart, und an seine Zukunft zu denken.»
Unsere Aufklärer, die selbst nicht gesessen haben, empfanden für die Eingekerkerten nur das natürliche Mitgefühl eines Außenstehenden; Dostojewski aber, der selbst gesessen hat, kämpfte für die Strafe! Das sollte zu denken geben.
Und das Sprichwort sagt: «Freiheit verdirbt, Unfreiheit lehrt.»
Allerdings schrieben Pellico und Lutschenezki über das Gefängnis. Dostojewski forderte Gefängnisstrafen. Und welche Unfreiheit lehrt?
Das Lager ? …
Hier zögert man.
Natürlich ist unser Lager im Vergleich zum Gefängnis giftig und schädlich.
Natürlich dachte man nicht an unsere Seelen, als man den Archipel aus dem Boden stampfte. Dennoch: Gibt es denn im Lager wirklich keine Hoffnung, bestehen zu können?
Mehr noch: Kann es denn im Lager wirklich keinen seelischen Aufstieg geben?
E. K., um 1940 geboren, zählt zu jenen jungen Leuten, die bereits unter Chruschtschow auf dem Majakowski-Platz zusammenkamen, um Gedichte zu lesen, und in den Schwarzen Raben verfrachtet wurden. Er schreibt seinem Mädchen aus dem Lager in Potma: «Hier bin ich fern von Hektik und kleinlichen Sorgen … In mir hat sich eine Wandlung vollzogen … Hier hört man auf jene innere Stimme, die in den Jahren der Zufriedenheit und der Selbstgefälligkeit vom äußeren Lärm übertönt wurde.»
In der Lageraußenstelle Samarka im Jahre 1946 ist eine Gruppe Intellektueller vom Tod gezeichnet: Hunger, Kälte und unmenschliche Arbeit haben sie ausgezehrt, selbst der Schlaf ist ihnen verwehrt, es gibt keine Schlafstellen, die Erdbaracken sind noch nicht gebaut. Stehlen sie? Spitzeln sie? Bejammern sie ihr zugrunde gerichtetes Leben? Nein! Den Tod vor Augen, ihn nicht in Wochen, sondern in Tagen erwartend, sitzen sie an einer Mauer und verbringen ihre letzten schlaflosen Mußestunden auf folgende Weise: Timofejew-Ressowski stellt aus ihnen ein Seminar zusammen, und sie tauschen noch rasch ihre Kenntnisse aus, sie halten einander die letzten Vorlesungen. Vater Sawelij liest «über den makellosen Tod», ein orthodoxer Theologe über Patristik, ein Unierter über Dogmatik und kanonisches Recht, ein Energiewissenschaftler über die Grundlagen der Energetik der Zukunft, ein Leningrader Wirtschaftswissenschaftler darüber, warum es mißlang, ohne neue Ideen die Prinzipien einer sowjetischen Wirtschaft aufzustellen. Timofejew-Ressowski selbst trägt ihnen die Grundlagen der Mikrophysik vor. Von Mal zu Mal zählen sie weniger Teilnehmer: Die anderen liegen schon in der Leichengrube.
Wer bereits die Todesstarre spürt und sich für all das noch interessieren kann – der
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