Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
gehört zur Intelligenz.
Verzeihung, ihr liebt das Leben? Ihr, ihr? Die ihr da ausruft, singt und tanzt: «Ich liebe dich, Leben! Ach, ich liebe dich, Leben!» Ihr liebt es? Also, dann liebt es! Auch das Lagerleben. Es ist auch Leben!
«Wo kein Schicksal dir zum Kampf gegeben
Dort wird deine Seele auferstehen …»
Einen Dreck habt ihr verstanden: Gerade dort verrottest du.
Unser Weg, der Weg unserer Wahl, windet sich in endlosen Kehren. Aufwärts? oder himmelwärts? Laßt uns gehen, vorwärtsstolpern.
Der Tag der Befreiung – was kann er uns nach so vielen Jahren geben? Wir werden uns bis zur Unkenntlichkeit verändert haben, und verändert haben werden sich die Menschen, die uns nahestehen, und die einstige Heimat wird uns fremder sein als die Fremde.
Der Gedanke an die Freiheit wird von einem gewissen Zeitpunkt an sogar gewaltsam, künstlich, fremd.
Der Tag der «Befreiung»! Als ob es in diesem Land Freiheit gäbe! Oder als ob man jemanden befreien könnte, der sich zuvor schon selbst innerlich befreit hat.
Geröll löst sich unter unseren Füßen. Rollt in die Tiefe, in die Vergangenheit. Es ist die Asche der Vergangenheit. Wir steigen höher.
Im Gefängnis ist gut denken , im Lager auch nicht schlecht. Vor allem, weil es keine Versammlungen gibt. Zehn Jahre ohne Versammlungen! Die reinste Bergluft! Während die Lagerschergen deinen Körper und deine Arbeitskraft bis zur Erschöpfung, ja bis zum Tod beanspruchen, lassen sie den Lauf deiner Gedanken unangetastet. Sie versuchen nicht, dein Gehirn einzuzwängen und festzunageln. Und das verschafft ein Gefühl weit größerer Freiheit als die Bewegungsfreiheit der Füße.
Niemand überredet dich, um die Aufnahme in der Partei nachzusuchen. Niemand treibt Mitgliedsbeiträge für freiwillige Organisationen ein. Es gibt keine Gewerkschaft, diesen gleichen «Verteidiger» deiner Rechte wie der staatliche Anwalt bei Gericht. Es gibt keine Produktionsversammlungen. Du kannst für kein Amt gewählt, zu keinem Bevollmächtigten ernannt werden. Und das Wichtigste, du brauchst nicht zu agitieren und «dich nicht agitieren zu lassen». Du brauchst nicht auf Knopfdruck zu rufen? «Wir fordern! … Wir lassen nicht zu! …» Und du brauchst nicht ins Wahllokal zu pilgern, um in freier und geheimer Wahl für einen einzigen Kandidaten zu stimmen. Man verlangt von dir keine sozialistischen Verpflichtungen. Keine Kritik der eigenen Fehler. Keine Artikel für die Wandzeitung. Kein Interview mit dem Lokalreporter.
Ein freier Kopf – zweifellos ein Vorteil des Lebens auf dem Archipel!
Und noch eine Freiheit: Sie können dir weder Familie noch Eigentum nehmen. Man hat sie dir schon genommen. Und wo nichts ist, kann auch Gott nichts nehmen. Das ist eine gründliche Freiheit.
In der Gefangenschaft ist gut denken. Der geringste Vorfall gibt Anstoß zu langen und bedeutungsvollen Überlegungen. Einmal im Laufe von drei Jahren wurde im Lager – welch unerhörtes Ereignis! – ein Film gezeigt. Ein Lustspiel aus dem Sportlermilieu, Der erste Handschuh. Billigste Sorte. Langweilig. Aber von der Leinwand her bekommt der Zuschauer hartnäckig die Moral eingehämmert:
«Wichtig ist das Resultat, doch das ist nicht zu euren Gunsten.»
Auf der Leinwand wird gelacht. Im Saal wird auch gelacht. Nach der Vorführung, als du blinzelnd den sonnenbeschienenen Lagerhof betrittst, geht dir dieser Satz durch den Kopf. Und am Abend auf der Bretterliege denkst du über ihn nach. Und am Montag beim Morgenappell denkst du über ihn nach. Soviel du willst, denkst du über ihn nach. Wo sonst könntest du dich so mit ihm beschäftigen? Und langsam dringt Klarheit in deinen Kopf.
Das ist kein Scherz. Das ist eine geistige Seuche. Sie hat unser Vaterland schon lange befallen. Aber sie wird noch und noch genährt. Die Vorstellung, daß nur das materielle Resultat wichtig ist, hat sich bei uns so tief eingefressen, daß, wenn zum Beispiel irgendein Tuchatschewski, Jagoda oder Sinowjew zum Verräter erklärt wird, der sich mit dem Feind eingelassen hat, das Volk nur verwundert fragt: «An was hat es ihm denn gefehlt?!»
Ein imposanter moralischer Maßstab! «An was hat es ihm denn gefehlt?» Weil er zu fressen gehabt hat, und zwanzig Anzüge, zwei Datschen, ein Auto, ein Flugzeug, und Ansehen, also: An was hat es ihm gefehlt?!! Millionen unserer Landsleute geht nicht in den Kopf, daß es für einen Menschen (ich spreche jetzt nicht von diesen dreien) noch andere Motive geben kann als materiellen
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