Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
wird über den Verbrecher verhängt, damit er diese ganze Haft lang über sein Verbrechen nachdenke, Gewissensqualen leide, bereue und allmählich sich bessere.
Doch der Archipel GULAG kennt keine Gewissensqualen ! Von hundert Bewohnern sind fünf Kriminelle, ihre Verbrechen sind für sie nicht Makel, sondern Ruhm, und sie träumen davon, sie in Zukunft noch geschickter und dreister zu begehen. Zu bereuen haben sie nichts. Weitere fünf haben geschädigt – nicht Menschen: In unserer Zeit kann man nur den Staat schädigen, der selbst ohne Bedenken und Verstand das Volksvermögen vergeudet. Was soll so ein Kerl bereuen? Höchstens, daß er nicht mehr genommen und mit anderen geteilt hat – und dann ungeschoren geblieben wäre! Und weitere fünfundachtzig Bewohner haben überhaupt kein Verbrechen begangen. Was sollst du also bereuen? Daß du gedacht hast, was du gedacht hast?
Nein, du bereust nicht nur nichts, das reine Gewissen leuchtet aus deinen Augen wie ein Bergsee. (Und deine Augen, vom Leid geläutert, sehen unfehlbar jede Trübung in den Augen der anderen, erkennen, zum Beispiel, unfehlbar den Spitzel. Von dieser unserer Fähigkeit, mit den Augen die Wahrheit zu sehen, wissen die Tschekisten-Gebisten nichts, das ist unsere «Geheimwaffe» gegen sie, hier versagt der Geheimdienst.)
In dem uns fast ausnahmslos eigenen Bewußtsein der Schuldlosigkeit liegt der Hauptunterschied zwischen uns und den Katorga-Sträflingen bei Dostojewski oder bei Pjotr Jakubowitsch. Dort – das Bewußtsein fluchbeladener Abtrünnigkeit, bei uns – die Gewißheit, daß sie jeden Freien ebenso kassieren können wie mich; daß uns der Stacheldraht nur bedingt trennt. Dort, bei der Mehrzahl – das unzweifelhafte Bewußtsein der eigenen Schuld, bei uns – das Bewußtsein eines sozusagen millionenfachen Pechs.
Doch am Pech geht man nicht zugrunde. Man muß es überstehen.
Liegt nicht darin der Grund, daß Selbstmorde im Lager erstaunlich selten sind? Ja, selten, obwohl jeder, der gesessen hat, sich wahrscheinlich an einen Selbstmordfall erinnern kann. Aber noch häufiger wird er sich an Fluchtversuche erinnern können. Fluchtversuche gab es wahrscheinlich mehr als Selbstmorde! (Die Eiferer des Sozialistischen Realismus können mich loben: Ich mache auf optimistisch.) Auch Selbstverstümmelungen gab es mehr als Selbstmorde! – Aber das ist ja auch eine lebensbejahende Tat, sie geschieht aus simpler Berechnung: einen Teil opfern zur Rettung des Ganzen. Mir will sogar scheinen, daß es, statistisch gesehen, auf tausend Einwohner, im Lager weniger Selbstmorde gegeben hat als in der Freiheit. Überprüfen kann ich es natürlich nicht.
Es ist sehr eindrucksvoll sich vorzustellen, daß all die Millionen unschuldig Gepeinigter plötzlich geschlossen Selbstmord begehen. Sie würden der Regierung zweifach Verdruß bereiten: durch die Demonstration ihrer Schuldlosigkeit und durch den Entzug unbezahlter Arbeitskraft. Und die Regierung ließe sich plötzlich erweichen? Und empfände Mitleid mit ihren Untertanen? … Kaum. Stalin würde das nicht beirren, er würde auf der Stelle weitere zwanzig Millionen Freie in Beschlag nehmen.
Aber nichts dergleichen geschah! Die Menschen starben zu Hunderttausenden und Millionen, zum Äußersten und Letzten getrieben, aber Selbstmorde gab es merkwürdigerweise so gut wie nicht! Zu einem verstümmelten Leben, zu Hunger und Auszehrung, zu übermäßiger Arbeit verdammt, nahmen sie sich dennoch nicht das Leben!
Ich habe nachgedacht und fand dieses Argument stärker: Der Selbstmörder ist immer ein Bankrotteur, ist immer ein Mensch in der Sackgasse, ein Mensch, der sein Leben verspielt hat und nicht den Willen besitzt, den Kampf fortzusetzen. Wenn diese Millionen hilfloser Kreaturen dennoch ihrem Leben kein Ende gemacht haben, so heißt das, daß in ihnen irgendein unbesiegbares Gefühl, irgendeine starke Überzeugung lebte.
Es war die Überzeugung von der allgemeinen Schuldlosigkeit. Es war das Gefühl einer nationalen Heimsuchung, ähnlich dem Tatarenjoch.
Aber wenn er nichts zu bereuen hat, woran denkt der Häftling all die Zeit! Bettelstab und Zellenwand geben dir Verstand. Geben ihn. Nur – wohin lenken sie ihn?
So ging es vielen, nicht mir allein. Unser erster Gefängnishimmel, das waren schwarze, sich ballende Wolken und schwarze, hoch aufsteigende Eruptionen, das war der Himmel von Pompeji, der Himmel des Jüngsten Tages, denn verhaftet war nicht irgend jemand, sondern Ich, der Mittelpunkt
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