Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Parteibüro, steigt ihnen ordentlich aufs Dach – und schon fällt der Einwand weg. Sollen sich schön den Kopf zerbrechen, einen Ausweg finden!
Und neben all diesen Gründen gibt es die natürlichen und durchaus verzeihlichen Mißgriffe der Führung selber. Wie Genosse Lenin zu sagen pflegte, irrt nur jener nicht, der nichts tut.
Ein Beispiel: So genau du die Erdarbeiten auch planst, die fallen selten auf den Sommer, immer, weiß der Himmel warum, auf den Herbst und den Winter mit Schlamm und Frost.
Oder hier ein Fall von der Sarosschij-Quelle bei der Kolyma-Grube Schturmowoj: Fünfhundert Mann wurden im März 1938 ausgeschickt, acht bis zehn Meter tiefe Schurfe im ewigen Frostboden zu graben. Gesagt, getan, Auftrag erledigt (die Hälfte der Seki ist krepiert). Nun hätt’s ans Sprengen gehen müssen, doch die Obrigkeit winkte ab: Der Metallgehalt war zu niedrig. Man ließ die Schurfe sein, im Mai stieg darin das Wasser hoch, die Arbeit war verloren. Zwei Jahre später, wiederum im März, wenn an der Kolyma noch tiefer Winter ist, fiel denen oben ein: Wo sind die Schurfe? Her damit! und an der gleichen Stelle! und dringend! und ohne mit Menschen zu geizen!
Von daher kommen sie, die Mehrausgaben …
Oder am Fluß Suchona in der Nähe der Siedlung Opoka – da richteten die Häftlinge einen Damm auf. Das Frühjahrswasser riß ihn im Nu fort. Schluß, basta, erledigt.
Oder wie die Archangelsker Lagerverwaltung dem Holzfällerlager von Talaga die Anweisung gab, Möbel herzustellen, bloß bei der Planung die Lieferung des Holzes einzukalkulieren vergessen hat, aus dem die Möbel geschreinert werden sollten. Doch Plan ist Plan und muß erfüllt werden! Den Talaganern blieb nichts anderes übrig, als Sonderbrigaden zu schaffen, die vereinzelte, von den Flößen abgesprengte Stämme aus dem Fluß zu fischen hatten. Es reichte nicht. Also wurden nach Raubritterart ganze Flöße gekapert. Flöße, die nun wiederum irgend jemand in einem anderen Plan fehlten. Aber auch den eigenen tüchtigen Burschen konnte die Talaga-Verwaltung keine Arbeitsorder ausstellen: Immerhin war’s Diebstahl. Na eben: das Rentabilitätsprinzip …
Solche kleinen Fehler sind bei jeder Arbeit unvermeidlich. Kein Funktionärskopf ist dagegen gefeit.
Und das ganze Getue mit der Salechard-Igarka-Bahn seit 1949? War, wie sich herausstellte, von Anfang bis Ende überflüssig, weil’s darauf nichts zu befördern gab. Und wurde ebenso an den Nagel gehängt. Ein Fehler aber war es, Schreck laß nach, von wem denn? Von Ihm persönlich …
Kostendeckend ist der Archipel aus all diesen Gründen nie gewesen, vielmehr muß das Land schon gehörig was dazulegen für das Vergnügen, ihn zu besitzen.
Vierter Teil
Seele und Stacheldraht
1
Läuterung
Die Jahre vergehen …
Nicht im Abzählreimtempo – «Winter-Sommer, Winter-Sommer», wie es im Lager scherzhaft heißt –, sondern: lange sich hinziehender Herbst, endloser Winter, lustloses Frühjahr. Kurz ist nur der Sommer. Auf dem Archipel ist der Sommer kurz.
Schon ein Jahr – wie lang ist das! Schon in einem Jahr – wieviel Zeit ist dir da gelassen zum Nachdenken! Wenn du dreihundertdreißigmal im Jahr untätig beim Morgenappell stehst, im schlackigen Nieselregen, im schneidenden Schneesturm und im klaren, regungslosen Frost. Wenn du dreihundertdreißig Tage lang mit unbeschäftigtem Kopf die verhaßte fremde Arbeit verrichtest. Und wenn du an dreihundertunddreißig Abenden durchnäßt und durchfroren auf dem Sammelplatz kauerst und wartest, bis die Begleitmannschaft von den entlegenen Wachttürmen eintrifft. Und auf dem Marsch hin und auf dem Marsch zurück. Und wenn du dich über siebenhundertunddreißig Suppennäpfe beugst und über siebenhundertunddreißig Grützeportionen. Und auf deiner Bretterliege, wenn du aufwachst und wieder einschläfst. Weder Radio noch Bücher lenken dich ab, es gibt keine, Gott sei Dank.
Und das erst ein Jahr. Aber es sind zehn Jahre, es sind fünfundzwanzig Jahre …
Und wenn sie dich mit Dystrophie ins Krankenrevier stecken – dort hast du auch gute Weile zum Nachdenken.
Denke! Ziehe irgendeine Lehre aus deinem Unglück!
Hirn und Seele der Häftlinge sind doch nicht untätig all diese endlose Zeit?! Von weitem, in der Masse, gleichen sie einem Läusegewimmel, aber sie sind doch die Krone der Schöpfung? Irgend einmal ist doch auch ihnen ein schwacher göttlicher Funke eingehaucht worden? Also was ist jetzt damit?
Jahrhunderte galt die Meinung: Die Haft
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