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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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betrachtet, trifft die Strafe jene, deren Entwicklung hoffen läßt.)
    Doch einen berechtigten Gedanken enthalten die letzten Worte Kornfelds, den ich für meine Person durchaus akzeptiere. Und viele andere werden ihn für sich akzeptieren.
    Im siebenten Jahr meiner Haft hatte ich mein Leben so ziemlich durchforscht und bereits begriffen, wofür mir das alles bestimmt war, das Gefängnis und die bösartige Geschwulst als Draufgabe. Ich würde nicht murren, wäre nicht auch diese Strafe als zu gering befunden worden.
    Strafe? Aber von wem auferlegt?
    Also, lassen Sie sich etwas einfallen – von wem auferlegt? …

    In jenem Krankenzimmer, aus dem Kornfeld in den Tod gegangen war, lag ich viele Wochen, immer allein. In schlaflosen Nächten ließ ich mein Leben an mir vorüberziehen und staunte über seine Wendungen. Um meine Gedanken festzuhalten, griff ich zu einem Lagertrick und faßte sie in Verse. Dieser Augenblick ist wohl jetzt am ehesten dazu geeignet, sie wiederzugeben, so wie sie auf dem Krankenlager entstanden, als draußen nach der Revolte das Katorga-Lager bebte.
    Wann nur habe ich Deine gute Saat
    So restlos in alle Winde zerstreut?
    Hatte doch auch ich meine Knabenzeit
    Im Lichtgesang Deiner Tempel verbracht.
    Dann blitzte die Bücherweisheit auf
    Und durchdrang mein eitles Hirn,
    Der Welt Geheimnis schien mir faßbar,
    Das Schicksal schien formbar wie Wachs.
    Es schäumte das Blut – die Welt
    Rings um mich schillerte bunt,
    Und lautlos, ohne Bersten, zerfiel
    Das Gebäude meines Glaubens.
    Nach Jahren zwischen Sein und Nichtsein,
    Zwischen Sturz und rettendem Halt,
    Blicke ich jetzt in dankbarem Schauder
    Auf mein vergangenes Leben zurück.
    Nicht mein Wille, nicht mein Geist
    haben seine Pfade erhellt –
    Des höchsten Sinnes mildes Licht,
    Das sich erst später mir geoffenbart.
    Und nun, da ich lebendiges Wasser
    Geschöpft mit neugewonnenem Maß,
    Gott des Weltalls! Ich glaube von neuem!
    Denn auch in der Irre warst Du bei mir …
    Zurückblickend erkenne ich, daß ich mein ganzes bewußtes Leben lang weder mich selbst noch mein Streben verstanden habe. Mir schien immer das heilbringend, was für mich verderblich war, und immer strebte ich gegen die Richtung, in die ich geführt wurde. Doch wie der ungeübte Schwimmer von den Brandungswellen mitgerissen und ans Ufer zurückgetragen wird, so wurde ich von den Schicksalsschlägen immer wieder schmerzhaft auf festen Grund zurückgeworfen. Und so konnte ich den Weg gehen, den ich immer gehen wollte.
    Mein gekrümmter, fast gebrochener Rücken ließ mich aus den Gefängnisjahren diese Erfahrung gewinnen: wie der Mensch schlecht wird und wie er gut wird. Im Rausch der frühen Erfolge war ich unfehlbar und grausam. Im Überfluß der Macht war ich Mörder und Schänder. In den bösesten Augenblicken war ich überzeugt, recht zu handeln, und mit stattlichen Argumenten gewappnet. Auf dem verfaulten Gefängnisstroh habe ich die erste Regung des Guten verspürt. Allmählich wurde mir offenbar, daß die Linie, die Gut und Böse trennt, nicht zwischen Staaten, nicht zwischen Klassen und nicht zwischen Parteien verläuft, sondern quer durch jedes Menschenherz. Diese Linie ist beweglich, sie schwankt im Laufe der Jahre. Selbst in einem vom Bösen besetzten Herzen hält sich ein Brückenkopf des Guten. Selbst im gütigsten Herzen – ein uneinnehmbarer Schlupfwinkel des Bösen.
    Damals erkannte ich die Wahrheit aller Religionen der Welt: Sie bekämpfen das Böse im Menschen (in jedem einzelnen Menschen). Man kann das Böse nicht gänzlich aus der Welt verbannen, man kann es nur in jedem Menschen zurückdrängen.
    Damals erkannte ich den Trug aller Revolutionen der Geschichte: Sie vernichten nur die jeweiligen Träger des Bösen (und da sie in der Eile nicht unterscheiden, auch die Träger des Guten), während sie das Böse, noch dazu vermehrt, als Erbe übernehmen.
    Man muß dem 20. Jahrhundert den Nürnberger Prozeß zur Ehre anrechnen: Er richtete die böse Idee an sich und nur wenige von ihr erfaßte Menschen. (Das ist natürlich nicht das Verdienst Stalins, er hätte es vorgezogen, weniger zu räsonieren und mehr zu erschießen.) Wenn die Menschheit bis zum Jahre 2000 nicht sich und ihren Planeten in die Luft sprengt oder sich selbst erstickt – vielleicht triumphiert diese Richtung? …
    Ja, wenn sie nicht triumphiert, dann war die ganze Geschichte der Menschheit ein sinnloses Auf-der-Stelle-Treten! Wohin und zu welchem Zweck bewegen wir uns dann? Dem Feind

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