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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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prüfen, ob es sich wirklich so verhält. Und du mußt dir erst klar darüber werden, was Freude und was Kummer ist.
    Deine Lebensregel ist jetzt: Freue dich nicht, wenn du gefunden hast, weine nicht, wenn du verloren hast.

    Deine Seele, die zuvor dürr war, wird vom Leiden durchtränkt und belebt. Du lernst, wenn schon nicht deinen Nächsten im christlichen Sinn, so doch die dir Nahen lieben.
    Jene im Geiste Nahen, die dich in der Unfreiheit umgeben. Wie viele von uns bekennen: In der Unfreiheit haben wir zum erstenmal echte Freundschaft erfahren!
    Und – jene im Blut Nahen, die dich im früheren Leben umgaben, die dich liebten, und du hast sie tyrannisiert …
    Da hast du ein dankbares und unerschöpfliches Betätigungsfeld für deine Gedanken: Überprüfe dein früheres Leben. Erinnere dich an alles Schlechte und Beschämende, das du getan, und überlege, ob du es jetzt nicht gutmachen kannst.
    Ja, du sitzt grundlos im Gefängnis. Vor dem Staat und seinen Gesetzen hast du nichts zu bereuen.
    Aber vor deinem Gewissen? Vor anderen Menschen?
    … Ich liege nach der Operation in der chirurgischen Abteilung des Lagerkrankenhauses. Ich kann mich nicht bewegen, heiße und kalte Schauer durchjagen mich, aber die Gedanken gleiten nicht in Fieberphantasien ab, und ich bin dem Arzt Boris Nikolajewitsch Kornfeld dankbar, daß er an meinem Bett sitzt und den ganzen Abend hindurch spricht. Das Licht ist ausgeschaltet, damit es die Augen nicht schmerzt. Nur er und ich sind im Zimmer, sonst niemand.
    Lange und leidenschaftlich erzählt er mir die Geschichte seiner Bekehrung vom jüdischen Glauben zum Christentum. Es war ein Zellengenosse, ein sanftmütiger Greis von der Art Platon Karatajews, der ihn, einen gebildeten Mann, bekehrte. Die Überzeugtheit des Neubekehrten, die Inbrunst seiner Worte erstaunen mich.
    Wir kennen uns nicht sehr gut, er ist nicht mein behandelnder Art, er hat hier einfach niemanden, dem er sich mitteilen könnte. Er ist ein weicher, umgänglicher Mensch.
    Es ist schon spät. In der Krankenbaracke schläft alles. Kornfeld beschließt seine Erzählung mit den Worten:
    «Und überhaupt, wissen Sie, habe ich mich überzeugt, daß keine Strafe in diesem irdischen Leben unverdient kommt. Es ist durchaus möglich, daß sie nicht für das kommt, was unsere offensichtliche Schuld ist. Aber wenn wir unser Leben durchforschen und uns tief hineinversenken, so werden wir immer jenes Verbrechen finden, für das wir jetzt büßen.»
    Ich sehe sein Gesicht nicht. Durch das Fenster dringt nur spärlich der Widerschein der Zone, und die Tür zum Gang ist nicht mehr als ein gelber Lichtfleck. Doch in seiner Stimme klingt ein solch mystisches Wissen, daß ich erschauere.
    Das sind die letzten Worte Boris Kornfelds. Er geht lautlos durch den nächtlichen Korridor in eines der angrenzenden Zimmer und legt sich schlafen. Alle schlafen, ihm bleibt nichts mehr zu sagen. Ich schlafe auch ein.
    Am Morgen werde ich durch Laufen und schwere Tritte auf dem Gang geweckt: Es sind die Sanitäter, die Kornfeld zum Operationstisch tragen. Mit einem Verputzhammer wurden dem Schlafenden acht Schläge gegen den Schädel versetzt (es ist bei uns üblich, Morde gleich nach dem Wecken zu erledigen, wenn die Baracken aufgesperrt sind, aber noch niemand aufgestanden, noch niemand unterwegs ist). Er stirbt auf dem Operationstisch, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben.
    So geschah es, daß die ahnungsschweren Worte Kornfelds seine letzten auf Erden waren und, an mich gerichtet, mir zum Vermächtnis wurden. Ein solches Vermächtnis schüttelt man nicht mit einem Schulterzucken ab.
    Aber ich war zu dieser Zeit bereits selbst zu einer ähnlichen Erkenntnis gereift. Ich wäre geneigt, seinen Worten die Bedeutung eines allgemeingültigen Lebensgesetzes zuzumessen. Dabei geriete man jedoch in die Irre. Menschen, die noch härter bestraft wurden als durch Gefängnis, die erschossen oder verbrannt wurden, müßten folglich Erzbösewichte gewesen sein. (Aber gerade die Unschuldigen werden mit besonderem Eifer zum Tode befördert.) Und was soll man dann von unseren offiziellen Peinigern sagen? Warum bestraft sie das Schicksal nicht? Warum ergeht es ihnen wohl?
    (Die Frage ließe sich nur damit beantworten, daß der Sinn des irdischen Daseins nicht im Wohlergehen liegt, wie wir gewohnt sind zu glauben, sondern in der Entfaltung der Seele. So betrachtet, sind unsere Peiniger am furchtbarsten bestraft: Sie vertieren, sinken aus der Menschheit ab. So

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