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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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antwortet sanft, ohne jede Gehässigkeit:
    «Wozu fragst du, Väterchen? Dort steht’s, ich hab mir nicht alle gemerkt.» (Sie hat eine Kollektion Achtundfünfziger Punkte.)
    «Frist?»
    Tante Dusja seufzt. Sie antwortet ausweichend, nicht jedoch, um die Wache zu ärgern. Sie denkt ganz unbefangen über die Frage nach: Frist? Ist es denn den Menschen gegeben, Fristen zu wissen? …
    «Welche Frist? … Bis Gott mir die Sünden vergibt, so lange werde ich sitzen.»
    «Dumme Kuh!» lacht der Wachsoldat. «Fünfzehn Jahre hast du, und die wirst du absitzen, vielleicht noch mehr.»
    Und es vergehen zweieinhalb Jahre ihrer Haftzeit, sie schreibt nirgendwohin – da kommt plötzlich ein Schrieb: Entlassen!
    Das ist Glaubensstärke. Wie sollte man diese Menschen nicht beneiden! War ihre Situation etwa günstiger? Kaum! Es ist bekannt, daß man die «Nonnen» zu den Prostituierten und Kriminellen in die Strafaußenstellen steckte. Doch hat sich je ein Gläubiger «zersetzen lassen»? Sie sind gestorben – «zersetzen lassen» haben sie sich nicht!
    Und wie läßt sich erklären, daß manche wankelmütigen Menschen gerade im Lager zum Glauben gefunden haben, durch ihn stark geworden sind und innerlich unversehrt überlebt haben?
    Und noch viele, in der Masse verstreut und unbeachtet, erleben ihre Schicksalswende und irren nicht in der Wahl. Jene, denen auffällt, daß es nicht nur ihnen schlecht geht, daß es den Nachbarn noch härter und schwerer getroffen hat.
    Und alle jene, die sich, auf die Gefahr von Strafversetzung und Haftverlängerung, geweigert haben, Spitzeldienste zu leisten.
    Und wie läßt sich so ein Fall wie Grigorij Iwanowitsch Grigorjew überhaupt erklären? Er war Gelehrter, Bodenkundler. 1941 meldete er sich zum Volksaufgebot. Das weitere kennt man: Gefangennahme bei Wjasma. Die ganze Kriegszeit über im deutschen Gefangenenlager. Das weitere kennt man auch: Zehn Jahre Lager bei uns. Ich lernte ihn im Winter bei den Allgemeinen in Ekibastus kennen. Der aufrechte, unbeugsame Charakter leuchtete nur so aus seinen großen, ruhig blickenden Augen. Der Geist dieses Menschen ließ sich nicht beugen, auch durch das Lager nicht, obwohl Grigorjew von zehn Jahren nur zwei in seinem Beruf arbeitete und fast die ganze Haftzeit hindurch keine Pakete erhielt. Von allen Seiten wurde ihm die Lagerphilosophie aufgedrängt, das Lagergift eingeimpft, doch er wollte nicht begreifen. In den Lagern von Kemerowo (Antibess) bearbeitete ihn ein Einsatzmann. Grigorjew antwortete ihm geradeheraus: «Mich widert es an, mit euch zu reden. Es finden sich auch ohne mich genug Bereitwillige.» – «Du kommst mir noch auf allen vieren gekrochen, du Hund!» – «Da hänge ich mich lieber am nächsten Ast auf.» Und wurde in eine Strafaußenstelle versetzt. Ein halbes Jahr hielt er dort durch. – Aber das ist nicht alles, er hat noch unverzeihlichere Fehler begangen: In eine landwirtschaftliche Sub-Lagerstelle versetzt, lehnte er den ihm (als Bodenkundler) angebotenen Brigadierposten ab. Statt dessen mähte und jätete er eifrig. Und noch unvernünftiger konnte er handeln. Er weigerte sich, im Steinbruch von Ekibastus als Normer zu arbeiten, aus einem einzigen Grund: Er wäre verpflichtet gewesen, den Arbeitern Tuchta anzuschreiben, für die dann der ewig besoffene Vorarbeiter, wenn er aus seinem Rausch aufwachte, den Kopf hätte hinhalten müssen (wenn überhaupt!). Er ging lieber Steine brechen. Seine Anständigkeit war geradezu ungeheuerlich und unnatürlich: Als er mit einer Gemüsespeicherbrigade Kartoffeln verarbeitete, nahm er sich keine einzige mit, obwohl es doch alle taten. Ein andermal war er einer privilegierten Mechanikerbrigade zugeteilt, die die Geräte einer Pumpenstation betreute, und verlor diesen Posten nur deshalb, weil er sich weigerte, dem freien Vorarbeiter Trejwisch, einem Junggesellen, die Socken zu waschen (die Arbeitskollegen redeten ihm zu: Kann es dir denn nicht egal sein, welche Arbeit du machst? Nein, offensichtlich nicht!). Wie oft hat er das schlechtere und schwerere Los gewählt, nur um sein Gewissen nicht zu verraten! Er hat es nicht verraten. Das kann ich bezeugen. Mehr noch: Dank der wunderbaren Wirkung, die der lautere, makellose Geist eines Menschen auf seinen Körper hat (an eine solche Wirkung wird heute nicht mehr geglaubt, man versteht dieses Phänomen nicht mehr), kräftigte sich der Organismus des nicht mehr jungen (er war gegen fünfzig) Grigorij Iwanowitsch im Lager. Seinen

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