Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
den Kopf einschlagen – das konnte auch der Höhlenmensch.
«Erkenne dich selbst!» Nichts weckt in uns so sehr die Fähigkeit des Alles-Verstehens wie das rastlose Grübeln über die eigenen Verbrechen, Fehler und Fehlschläge. Wenn ich nach solchen mühseligen, jahrelangen Gedankenwanderungen von der Skrupellosigkeit unserer höchsten Beamten und der Grausamkeit unserer Henker sprechen höre, denke ich zurück an meine Hauptmanns-Epauletten, an den Vormarsch meiner Batterie durch das in Flammen gehüllte Ostpreußen und frage: Waren wir denn besser? …
Und wenn ich über die Lauheit des Westens, seine politische Kurzsichtigkeit, Uneinigkeit und Kopflosigkeit klagen höre, so erinnere ich daran:
Haben wir, bevor wir den Archipel durchlebten, etwa mehr Festigkeit, mehr Gedankenstärke besessen?
Daher sage ich, zu den Jahren meiner Haft gewandt – und es wird meine Mitmenschen verwundern:
SEI GESEGNET, MEIN GEFÄNGNIS!
Mit Recht hat sich Lew Tolstoi nach dem Gefängnis gesehnt. Es kam der Zeitpunkt, da dieser Gigant zu verdorren begann. Er brauchte das Gefängnis tatsächlich wie die Dürre den Regenguß.
Alle Schriftsteller, die über das Gefängnis schrieben, ohne darin gesessen zu haben, hielten es für ihre Pflicht, Mitgefühl für die Gefangenen zu bekunden und das Gefängnis zu verdammen. Ich habe dort lang genug gesessen, ich habe dort meine Seele großgezogen. Ich wiederhole unbeirrt:
SEI GESEGNET, GEFÄNGNIS, daß du in meinem Leben gewesen bist!
(Und aus den Gräbern tönt mir die Antwort: Du hast leicht reden, du bist am Leben geblieben!)
2
… oder Zersetzung
Man unterbricht mich: «Sie sprechen von etwas ganz anderem. Sie sind wieder auf das Gefängnis zu sprechen gekommen. Aber es geht um das Lager .»
Mir scheint, ich habe vom Lager gesprochen. Aber gut, ich schweige. Lasse Gegenmeinungen zu Wort kommen. Viele Lagerinsassen werden mir entgegnen, daß sie von «Läuterung» keine Spur bemerkt hätten, dagegen Zersetzung auf Schritt und Tritt.
Am hartnäckigsten und gewichtigsten (weil bei ihm das alles bereits geschrieben steht) widerspricht Schalamow:
«In der Lagerwelt bleiben Menschen nie Menschen. Dafür sind die Lager nicht geschaffen.»
«Alle menschlichen Gefühle, Liebe, Freundschaft, Neid, Menschenliebe, Barmherzigkeit, Ehrgeiz, Anständigkeit, sind uns mit dem Fleisch der Muskeln abhanden gekommen … Wir kannten keinen Stolz und keine Eigenliebe. Eifersucht und Leidenschaft schienen uns Begriffe aus einer anderen Welt zu sein … Es blieb nur der Haß, das dauerhafteste menschliche Gefühl.»
«Wir erkannten, daß Wahrheit und Lüge leibliche Schwestern sind.»
Schalamow ist nur zu einer Einschränkung bereit: Im Gefängnis ist Läuterung, Vertiefung und Entwicklung der Seele möglich. Hingegen:
«… das Lager ist eine durch und durch negative Lebensschule. Niemand kann ihm etwas Notwendiges oder Nützliches abgewinnen. Der Häftling lernt dort Schmeichelei und Lüge, kleine und große Gemeinheiten. nach Hause zurückgekehrt, sieht er, daß er sich im Lager nicht nur nicht weiterentwickelt hat, sondern daß seine Interessen eng und primitiv geworden sind.»
Dieser Unterscheidung stimmt auch Jewgenija Ginsburg zu: «Das Gefängnis erhebt den Menschen, das Lager zersetzt ihn.»
Was soll man da entgegnen?
Im Gefängnis (ob in der Einzelzelle oder nicht) ist der Mensch seinem Gram gegenübergestellt. Dieser Gram ist ein Berg, und der Mensch muß ihn abtragen, aufbereiten, in sich verarbeiten und sich in ihm. Das ist höchste moralische Arbeit, das hat immer und alle erhöht. Der Zweikampf mit den Jahren und Wänden ist eine moralische Arbeit, ist der Weg zur inneren Befreiung (wenn du ihn bewältigst). Wenn du diese Jahre mit einem Kameraden teilst, so brauchst du nicht für sein Leben zu sterben, und er braucht nicht zu sterben, damit du überlebst. Euch steht der Weg offen, einander nicht zu bekämpfen, sondern zu unterstützen und zu bereichern.
Im Lager gibt es diesen Weg anscheinend nicht. Das Brot wird nicht in gleichgroßen Stücken verteilt, es wird auf einen Haufen geworfen – hol dir’s! Tritt deinen Nachbarn nieder, reiß es ihm aus der Hand! Brot wird so viel ausgegeben, daß auf einen Überlebenden ein oder zwei Tote kommen. Es hängt an der Fichte – fälle sie. Es liegt im Schacht – fahr ein und fördere es zu Tage. Du hast keine Zeit, an deinen Kummer zu denken, über Vergangenheit und Zukunft, Gott und die Welt zu sinnieren. Dein Kopf ist mit
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