Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
kleinlichen Sorgen und Ängsten beschäftigt, die dir heute den Himmel verdunkeln und sich morgen in nichts auflösen. Du haßt die Arbeit – sie ist dein Feind Nummer eins. Du haßt die Mithäftlinge, deine Konkurrenten in Leben und Tod. Du verzehrst dich in Mißgunst und Unruhe, daß jetzt irgendwo hinter deinem Rücken jenes Brot geteilt wird, das dir hätte zufallen können, daß irgendwo hinter der Wand jene Kartoffel aus dem Kessel gefischt wird, die in deinen Napf hätte geraten können.
Das Lagerleben ist so eingerichtet, daß der Neid von allen Seiten auf deine Seele einhackt, mag sie auch noch so gut gegen ihn geschützt sein.
Und ständig verfolgt dich die Angst. Die Angst, daß du auch jenen kümmerlichen Status verlierst, auf dem du dich noch hältst, daß du deine Arbeit verlierst, die noch nicht die schwerste ist, daß du in einen Transport gesteckt oder in eine Zone mit verschärftem Regime versetzt wirst. Und wenn du schwächer bist als die andern, wirst du geschlagen. Oder du schlägst den Schwächeren. Ist das nicht Zersetzung? Seelenschorf nennt Rubailo, ein alter Lagerhäftling, diese rasche Verräudung des Menschen unter dem äußeren Druck.
In Haßgefühlen und kleinlichen Sorgen und Ängsten befangen – wann und woran sollst du dich da seelisch aufrichten?
Aber ist das bei uns nicht alles zehnmal ärger?! … Also sollte man, statt dagegenzusprechen und eine imaginäre Lager-«Läuterung» zu verteidigen, vielmehr die zahllosen Fälle echter Zersetzung beschreiben. Man sollte Beispiele dafür bringen, daß gewiß niemand gegen jene Lagerphilosophie aufkommen kann, die der Anordner Jaschka in Dscheskasgan so formulierte: «Je mehr Gemeinheiten du den Leuten antust, desto mehr respektieren sie dich.» Erzählen, wie ehemalige Frontsoldaten (Kras-Lag, 1942), kaum eingeliefert, kaum Unterweltluft gerochen, schon selbst begannen zu organisieren, Litauer auszunehmen und sich an ihren Lebensmitteln und Habseligkeiten zu bereichern (und ihr, Grünlinge, könnt vor die Hunde gehen!). Wie einige Wlassow-Leute es auf die Kriminellentour versuchten, nachdem sie sich überzeugt hatten, daß man nur so im Lager überleben kann. Wie ein Literaturdozent zum Bandenchef wurde.
Und wieviel Zersetzung bewirkte jene bereits 1918 proklamierte demokratische und fortschrittliche Institution der «Selbstbelauerung», in unserer Terminologie Selbstbewachung ! Den Häftling zur Selbstbewachung einsetzen – das ist eine der Hauptmethoden menschlicher Zersetzung im Lager.
Und er ist stolz. Und er hält sklavisch den Gewehrschaft umklammert. Und schießt. Mitleidloser sogar als die freien Wachsoldaten. (Wer kann es sagen: Ist es wirklich hühnerblinder Glaube an die «soziale Selbstverwaltung»? Oder eiskalte Berechnung, die mit den niedrigsten menschlichen Instinkten spekuliert?)
Aber es gibt ja nicht nur Selbstbewachung: es gibt noch Selbstaufsicht, Selbstunterdrückung – bis hinauf zu den Leitern der Lageraußenstellen waren in den dreißiger Jahren alle Stellen mit Häftlingen besetzt. Auch der Transportleiter und der Produktionsleiter waren Häftlinge. (Wie war’s auch anders möglich, wenn auf die 100 000 Häftlinge des Weißmeerkanals 37 Tschekisten kamen!) Sogar die Einsatzbevollmächtigten waren Häftlinge!! Weiter kann die «Selbstverwaltung» schon nicht mehr gehen: gegen sich selbst Untersuchung führen! Gegen sich selbst Spitzel ansetzen!
Ja, ja! Aber diese zahllosen Fälle von Zersetzung will ich hier nicht behandeln. Sie sind allen bekannt, sie wurden beschrieben und werden beschrieben werden. Es genügt, wenn ich sie bestätige. Das ist die allgemeine Richtung. Das ist die Regel.
Wozu von jedem Haus sagen, daß es im strengen Frost die Wärme verliert. Erstaunlicher ist, daß es Häuser gibt, die auch im strengen Frost die Wärme halten.
Und wie bleiben sich die echt religiösen Menschen im Lager treu (wir haben diese Frage schon berührt)? Wiederholt in diesem Buch sind sie uns begegnet auf ihrem unbeirrten Marsch durch den Archipel, eine schweigende Prozession mit unsichtbaren Kerzen. Manche stürzen, wie von Maschinengewehrsalven niedergemäht, die nächsten treten an ihre Stelle und gehen diesen Weg weiter. Seelische Stärke, wie sie das 20. Jahrhundert nicht kennt! Und es ist nichts Theatralisches, nichts Pathetisches daran. Irgendeine Dusja Tschmil zum Beispiel, ein rundgesichtiges, stilles, vollkommen ungebildetes Weiblein. Die Wache schnauzt sie an:
«Tschmil! Paragraph?»
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