Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Gelenkrheumatismus wurde er völlig los, und nach einem überstandenen Typhus fühlte er sich besonders gesund: Im Winter trug er Papiersäcke, in die er Löcher für Kopf und Arme geschnitten hatte – und erkältete sich nicht!
Man wird also eher sagen können: Das Lager kann denen nichts anhaben, die einen heilen Kern besitzen und nicht jene erbärmliche Ideologie «Der Mensch ist für das Glück geschaffen», die einem mit dem ersten Stockhieb des Anordners ausgetrieben wird.
Im Lager verrotten die, deren Leben vorher durch keine sittlichen Prinzipien und keine geistige Erziehung bereichert war. (Das ist keine theoretische Annahme, unsere ruhmreichen fünfzig Jahre haben Millionen solcher Menschen hervorgebracht.)
Im Lager verrotten die, die schon in der Freiheit von Verrottung befallen oder zu ihr bereit waren. Seelische Verrottung gibt es auch in der Freiheit, manchmal noch perfekter als im Lager.
Wenn ein Mensch im Lager niederträchtig wird, so wird er es vielleicht nicht erst, sondern es bricht das Niederträchtige in ihm jetzt auf, wozu es früher einfach keinen Anlaß gab.
Wojtschenko schreibt: «Im Lager bestimmte nicht das Sein das Bewußtsein, sondern umgekehrt: Vom Bewußtsein und dem unbeirrbaren Glauben an das Menschentum hing es ab, ob du zum Tier wurdest oder Mensch bliebst.»
Es stimmt, die seelische Zersetzung im Lager war eine Massenerscheinung. Aber nicht nur, weil die Lager schrecklich waren, auch darum, weil wir Sowjetmenschen den Boden des Archipel geistig ungewappnet betraten, längst zur Verrottung bereit, schon in der Freiheit von ihr befallen, und nur allzu aufgeschlossen für die Lehren der alten Lagerhasen, «wie man im Lager leben muß».
Doch wie man leben (und sterben) muß, das zu wissen sind wir auch ohne Lager verpflichtet.
Ja, die Lager waren auf Zersetzung berechnet und ausgerichtet. Aber das heißt nicht, daß es gelang, jeden zu brechen.
So wie in der Natur der Prozeß des Stoffabbaus nie ohne gleichzeitige Regeneration abläuft (das eine wird abgebaut, das andere zur selben Zeit aufgebaut), so gibt es auch im Lager (und überall im Leben) keinen Verfall ohne gleichzeitigen Aufstieg. Man findet beides nebeneinander.
Ich hoffe im nächsten Buchteil zeigen zu können, wie in einem anderen Lagertypus, in den Sonderlagern, zu einer gewissen Zeit eine andere Atmosphäre entstand, in der der Prozeß der Zersetzung stark erschwert wurde und der Prozeß der Läuterung sogar die Lagerschakale in seinen Bann zog.
3
Die mißhandelte Freiheit
Wenn man einmal alles Wichtige über den Archipel GULAG geschrieben, gelesen und verstanden haben wird, wird man dann auch verstehen, was unsere Freiheit war? was das für ein Land war, das Jahrzehnte hindurch den Archipel in sich getragen hat?
Ich habe eine Geschwulst von der Größe einer Männerfaust in mir getragen. Sie blähte meinen Unterleib auf und entstellte ihn, sie behinderte mich beim Essen und Schlafen, sie war immer in meinem Bewußtsein (obwohl sie nicht einmal ein halbes Prozent meines Körpers ausmachte, während der Archipel ungefähr acht Prozent des Landes bedeckte). Schrecklich war jedoch nicht, daß sie auf die benachbarten Organe drückte und sie verdrängte, schrecklicher war, daß sie Giftstoffe aussandte und den ganzen Körper verseuchte.
So wurde auch unser Land allmählich von den Giften des Archipels durchsetzt. Und Gott weiß, ob es sich jemals wieder von ihnen befreit.
Werden wir die Fähigkeit und den Mut haben, die ganze Abscheulichkeit zu beschreiben, in der wir gelebt haben (und die, im übrigen, von der heutigen nicht allzusehr abweicht)? Denn wenn man diese Abscheulichkeit nicht rückhaltlos vor Augen führt, wird Lüge daraus. Daher bin ich der Meinung, daß es in den dreißiger, vierziger oder fünfziger Jahren bei uns keine Literatur gegeben hat. Denn ohne die ganze Wahrheit gibt es keine Literatur. Heute wird diese Abscheulichkeit der Mode entsprechend angedeutet, durch einen Lapsus linguae, eine Bemerkung en passant, ein Postskriptum, eine Nuance – und wieder entsteht Lüge.
Es ist zwar nicht die Aufgabe dieses Buches, aber wir werden trotzdem versuchen, kurz jene Kennzeichen des freien Lebens aufzuzählen, die durch die Nachbarschaft des Archipels bestimmt waren und mit ihm eine einheitliche Landschaft bildeten.
1. STÄNDIGE ANGST. Der Leser hat bereits erfahren, daß sich die Aushebungen für den Archipel nicht auf die Jahre 1935, 1937 und 1949 beschränkten. Ausgehoben wurde laufend.
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