Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Wie keine Minute vergeht, ohne daß Menschen sterben oder geboren werden, so verging keine Minute, ohne daß Menschen verhaftet wurden. Manchmal geschah es ganz in der Nähe, manchmal irgendwo weiter weg, manchmal redeten die Menschen sich ein, daß ihnen keine Gefahr drohe, manchmal gingen sie selbst unter die Henker, und die Bedrohung ließ nach – doch jeder erwachsene Bewohner dieses Landes, vom Kolchosbauern bis zum Politbüromitglied, wußte jederzeit, daß ein unvorsichtiges Wort, eine unvorsichtige Bewegung genügten, um ihn für immer in den Abgrund zu stürzen.
So wie auf dem Archipel unter jedem der Pridurki der tödliche Abgrund der allgemeinen Arbeiten klaffte, so klaffte unter jedem Bewohner des Landes der tödliche Abgrund des Archipels. Obwohl es dem Anschein nach viel größer war, schwebte das ganze Land samt seinen Bewohnern gespenstisch über dem aufgerissenen Rachen des Archipels.
Angst ist nicht immer die Angst vor der Verhaftung. Es gab Zwischenstufen: Säuberung, Überprüfung, Fragebogen (turnusmäßige und außerturnusmäßige), Entlassung, Entzug der polizeilichen Aufenthaltsgenehmigung, Ausweisung oder Verbannung. Die Fragebogen waren so detailliert und inquisitorisch abgefaßt, daß die Mehrheit der Bevölkerung Schuldgefühle hatte und ständig in quälender Erwartung der Fragebogentermine lebte. Hatte man einmal eine unwahre Lebensgeschichte verfaßt, so galt es, sich in ihr nicht zu verstricken.
Der allgemeinen Angst entsprang das fatale Bewußtsein der eigenen Nichtigkeit und das Gefühl völliger Rechtlosigkeit. Das Gefühl der Sorglosigkeit haben unsere Bürger nie gekannt.
2. MANGELNDE FREIZÜGIGKEIT. Hätte die Möglichkeit bestanden, ohne weiteres den Wohnort zu wechseln, den Ort der Gefahr zu verlassen und so die Angst abzuschütteln und aufzuatmen – die Menschen wären mutiger gewesen, hätten was riskieren können. Doch Jahrzehnte lang waren sie durch jenes System gefesselt, das ein eigenmächtiges Wechseln des Arbeitsplatzes untersagte. Auch durch das polizeiliche Meldesystem war jeder an seinen Ort gebannt. Und – durch die Wohnung, die man weder verkaufen, noch tauschen, noch mieten konnte. Protest dort, wo man wohnte, wo man arbeitete, war daher Tollkühnheit.
3. VERSCHLOSSENHEIT, MISSTRAUEN. Diese Gefühle traten an die Stelle offener Herzlichkeit und Gastfreundschaft (die auch in den zwanziger Jahren noch nicht tot waren). Diese Gefühle waren der natürliche Schutz jeder Familie, jedes Menschen, zumal niemand den Arbeitsplatz oder Wohnort wechseln konnte und jede Kleinigkeit jahrelang den Augen und Ohren der anderen ausgesetzt war. Die Verschlossenheit des sowjetischen Menschen ist keineswegs übertrieben, sie ist notwendig, wenn sie auch dem Ausländer manchmal übermenschlich erscheinen mag. Der ehemalige zaristische Offizier K. U. konnte nur deshalb überleben und jeder Inhaftierung entgehen, weil er, nachdem er geheiratet hatte, seiner Frau die eigene Vergangenheit verschwieg. Als sein Bruder N. U. verhaftet wurde, machte sich dessen Frau den Umstand zunutze, daß sie sich zur Zeit der Verhaftung in einer anderen Stadt aufhielt, und verheimlichte ihrem Vater und ihrer Schwester die Verhaftung des Ehemanns, damit sie nichts ausplaudern konnten. Sie zog es vor, ihnen und allen anderen zu sagen (und lange Zeit vorzuspielen), ihr Mann hätte sie verlassen! Das sind die Geheimnisse einer Familie, die jetzt, dreißig Jahre später, bekannt wurden. Und in welcher städtischen Familie gab es sie nicht?
4. ALLGEMEINE UNKENNTNIS. Indem wir uns voreinander verbargen und einander nicht trauten, trugen wir dazu bei, daß sich bei uns jene absolute Geheimhaltung, jene absolute Desinformation durchsetzte, die die Ursache der Ursachen alles Geschehenen ist, der millionenfachen Verhaftungen und ihrer millionenfachen Billigung. Wir teilten einander nichts mit, wir klagten nicht, wir stöhnten nicht, wir erfuhren nichts voneinander, statt dessen prostituierten wir uns gegenüber den Zeitungen und Parteirednern.
5. SPITZELTUM von unvorstellbarem Ausmaß. Hunderttausende von Einsatzbeamten saßen in offiziellen Büros, harmlosen Zimmern staatlicher Gebäude oder vereinbarter Wohnungstreffpunkte und waren unermüdlich, weder Zeit noch Papier sparend, damit beschäftigt, eine solche Unzahl von Spitzeln anzuwerben, vorzuladen und auszuhorchen, wie sie zur Informationsgewinnung allein einfach nicht notwendig sein konnte. Eines der Ziele derart aufwendiger Anwerbung war
Weitere Kostenlose Bücher