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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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ausgeworfen, es wurde nach Planziffern verhaftet, doch jeder, der öffentlich dagegen sprach, wurde im gleichen Augenblick gefaßt. Das war nicht Lotterie, sondern Seelenauslese. Die Mutigen kamen unters Beil oder wurden auf den Archipel verschleppt – ohne daß das Bild der eintönig-unterwürfigen Freiheit, die zurückblieb, gestört worden wäre. Alle Reineren und Besseren hatten in dieser Gesellschaft keinen Platz, und ohne sie verrottete sie immer mehr. In diesen stillen Abgängen, die man kaum wahrnahm, starb die Volksseele.
    7. ZERSETZUNG. In einer Welt des Verrats und jahrelanger Angst überlebten die Überlebenden nur äußerlich, nur physisch. Innerlich verwesten sie. Waren doch Millionen bereit, Spitzeldienste zu leisten. Die Zahl der Häftlinge, die im Laufe von 35 Jahren (bis 1953) den Archipel passierten oder dort starben, beträgt schätzungsweise vierzig bis fünfzig Millionen (eine vorsichtige Schätzung, denn das ist nur das Drei-oder Vierfache der durchschnittlichen Bevölkerung des GULAG, im Krieg starb jedoch täglich ein Prozent weg), und man kann annehmen, daß mindestens in jedem dritten, sagen wir, in jedem vierten Verfahren jemand denunziert und jemand bezeugt hat! Sie sind noch heute alle unter uns, diese Tintenmörder, die meisten im Wohlstand, und wir nennen sie stolz «unsere einfachen Sowjetmenschen».
    8. LÜGE ALS DASEINSFORM. Ob die Menschen der Angst erliegen oder ob sie von Neid und Eigensucht erfaßt werden, jedenfalls verdummen sie nicht ebenso rasch. Ihre Seele ist getrübt, der Verstand ist noch ziemlich klar. Sie können doch nicht glauben, daß die ganze Genialität der Welt plötzlich in einem einzigen Kopf mit niedriger, fliehender Stirn konzentriert sein soll. Sie können sich doch nicht mit jenen dumm-primitiven Sowjetmenschen identifizieren, die man im Rundfunk, im Kino und in den Zeitungen aus ihnen macht. Die Wahrheit zu sagen zwingt sie nichts, doch niemand erlaubt ihnen zu schweigen! Sie müssen sprechen – und was, wenn nicht Lüge? Sie müssen frenetisch applaudieren – Aufrichtigkeit wird von ihnen nicht verlangt.
    Die ständige Lüge wird, ebenso wie der Verrat, zur einzigen ungefährlichen Daseinsform. Jede Bewegung der Zunge kann von jemandem gehört werden, jeder Ausdruck des Gesichtes von jemandem beobachtet werden. Jedes Wort, wenn es schon nicht direkte Lüge ist, darf zumindest nicht der allgemeinen Lüge widersprechen. Es gibt ein Arsenal von Phrasen, Standardbezeichnungen, Lügenklischees, und keine Rede, kein Artikel, kein Buch, ob wissenschaftlich, journalistisch, kritisch oder «schöngeistig», kann ohne Verwendung dieses Arsenals auskommen. Im allerwissenschaftlichsten Text muß irgendwo jemandes falsche Autorität oder Priorität unterstützt und jemand der Wahrheit wegen beschimpft werden: Ohne diese Lüge erscheint kein akademisches Werk. Ganz zu schweigen von den lautstarken Meetings und Pausenversammlungen, wo man von dir verlangt, gegen die eigene Meinung zu stimmen, Freude vorzutäuschen über das, was dich verbittert.
    Tenno erinnerte sich im Gefängnis beschämt daran, wie er zwei Wochen vor seiner Verhaftung Seeleuten einen Vortrag hielt: «Die Stalin-Verfassung – die demokratischste Verfassung der Welt» (versteht sich, kein Wort davon war ehrlich gemeint).
    Es gibt keinen Menschen, der auch nur eine Druckseite schrieb, ohne zu lügen. Es gibt keinen Menschen, der ans Rednerpult trat, ohne zu lügen. Es gibt keinen Menschen, der ins Mikrofon sprach, ohne zu lügen.
    Wenn das alles gewesen wäre! Aber es ging noch weiter: Jedes Gespräch mit dem Vorgesetzten, jedes Gespräch in der Personalabteilung, überhaupt jedes Gespräch mit einem anderen Sowjetbürger verlangte Lüge, manchmal brutale Lüge, manchmal vorsichtige, manchmal nachsichtig-zustimmende. Wenn dir ein Dummkopf unter vier Augen sagt, daß wir uns bis zur Wolga zurückziehen, um Hitler tiefer ins Land zu locken, oder daß die Kartoffelkäfer von den Amerikanern über unseren Feldern abgeworfen werden, so mußt du zustimmen! Du mußt unbedingt zustimmen! Ein Kopfschütteln statt Kopfnicken kann dich die Freiheit kosten.
    Aber auch das ist noch nicht alles. Deine Kinder wachsen heran! Wenn sie ein gewisses Alter erreicht haben, dürft ihr, du und deine Frau, in ihrer Gegenwart nicht mehr offen aussprechen, was ihr denkt: Denn sie werden zu Pawlik Morosows erzogen, und sie werden sich nicht scheuen, seine Heldentat zu wiederholen. Und wenn eure Kinder noch klein sind, müßt

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