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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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offensichtlich: zu erreichen, daß jeder Untertan die Allgegenwart des Hörrohres spürte. Daß in jeder Gesellschaft, in jedem Arbeitsraum, in jeder Wohnung entweder ein Spitzel saß oder alle befürchteten, daß einer darin sitze.
    Ich vermute, daß, grob geschätzt, auf vier bis fünf Stadtbewohner einer kommt, dem zumindest einmal im Leben angetragen wurde, Spitzel zu werden. Vielleicht auch mehr. In letzter Zeit habe ich bei ehemaligen Häftlingen und betagten Freien Stichproben gemacht. Ich brachte das Gespräch darauf, wer wann und wie geworben wurde. In einer Tischrunde stellte sich heraus, daß man es seinerzeit bei allen versucht hatte!
    Nadeschda Mandelstam bemerkt richtig, daß es außer dem Zweck, die Kontakte der Menschen untereinander zu schwächen, noch einen anderen gab: Die sich anwerben ließen, fürchten die öffentliche Entlarvung und sind daher an der Aufrechterhaltung des Regimes interessiert.
    6. VERRAT ALS DASEINSFORM. Der Mensch, der in jahrelanger ständiger Angst um sich und seine Familie lebt, wird zum Tributpflichtigen der Angst, zu ihrem Untertan. Und als ungefährlichste Daseinsform erweist sich der permanente Verrat.
    Die mildeste, daher verbreitetste Form des Verrats besteht darin, persönlich nicht unmittelbar etwas Schlechtes zu tun, aber den neben dir Zugrundegehenden nicht zu bemerken, ihm nicht zu helfen, dich abzuwenden, dich zu verkriechen. Es wird dein Nachbar verhaftet, dein Arbeitskollege, vielleicht sogar dein bester Freund. Doch du schweigst, tust so, als ob du nichts bemerkt hättest. (Du willst doch nicht deinen Arbeitsplatz verlieren!) In der allgemeinen Versammlung wird verkündet, daß der gestern Verschwundene ein geschworener Feind des Volkes sei. Und du, der du zwanzig Jahre mit ihm im selben Raum gearbeitet hast, über denselben Tisch gebeugt, du mußt durch dein würdevolles Schweigen (vielleicht auch durch laute Anklage) beweisen, daß du mit seinen Verbrechen nichts gemein hast. (Du mußt dieses Opfer für deine teure Familie, für deine Lieben bringen! Du bist verpflichtet, an sie zu denken!) Doch der Verhaftete hat Frau, Mutter, Kinder hinterlassen. Vielleicht solltest du ihnen helfen? Nein, nein, das ist zu gefährlich: Es ist ja die Frau des Volksfeindes, die Mutter des Volksfeindes, es sind die Kinder des Volksfeindes (und den deinen steht noch ein langer Bildungsweg bevor!).
    Wer beherbergt, ist Feind! Wer unterstützt, ist Feind! Wer Freundschaft weiterführt, ist Feind! Und das Telefon der Geächteten verstummt. Inmitten des Großstadtgetriebes ist plötzlich Wüste um sie.
    Aber das war es gerade, was Stalin brauchte. Er lachte sich einfach ins Fäustchen!
    Als wir die Bedeutung des Jahres 1937 für den Archipel untersuchten, haben wir ihm die höchste Krone versagt. Doch jetzt, in seiner Bedeutung für unsere Freiheit, verdient es die Krone – die rostige Krone des Verrats: Es war das Jahr, das die Seele unserer Freiheit gebrochen und sie mit millionenfacher Verwesung erfüllt hat.
    Aber auch das war noch nicht das Ende unserer Gesellschaft! (Wie wir jetzt sehen, ist dieses Ende überhaupt nicht eingetreten. Der Lebensfunke Rußlands hat überdauert bis zum Ausbruch besserer Zeiten 1956 und wird nun erst recht nicht erlöschen.) Der Widerstand trat nicht offen zutage, er hinterließ keinen Farbton im Grau des allgemeinen Verfalls, doch in unsichtbaren Äderchen pulsierte er fort und fort.
    Sich der Staatsgewalt auch nur im geringsten zu widersetzen, erforderte einen unverhältnismäßig hohen Grad von Mut. Es war ungefährlicher, unter Alexander II. Dynamit aufzubewahren, als unter Stalin das verwaiste Kind eines Volksfeindes zu beherbergen. Und dennoch – wie viele solcher Kinder wurden aufgenommen und gerettet (mögen es die Kinder selbst erzählen)! Und dennoch gab es Menschen, die verfolgten Familien heimlich halfen. Und dennoch fand sich jemand, der die Frau des Häftlings beim aussichtslosen tagelangen Schlangestehen ablöste, damit sie sich aufwärmen und ein wenig schlafen konnte. Und jemand, der mit hämmerndem Herzen ging, um den Nachbarn vor der Rückkehr in die Wohnung zu warnen, weil dort der Geheimdienst wartete. Und jemand, der dem Geflüchteten Unterschlupf gewährte, auch wenn er selbst eine schlaflose Nacht deswegen verbrachte.
    Es ist bequem, jetzt zu sagen, die Verhaftung sei «ein Lotteriespiel» gewesen (Ehrenburg). Lotterie hin, Lotterie her, einige Nummern waren jedenfalls gekennzeichnet. Sicher, es wurde das große Netz

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