Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
mir keine Handschuhe – so etwa?
Eigenartigerweise hat sich diese Frage weder in Dänemark noch in Norwegen, Belgien oder Frankreich gestellt. Dort war man keineswegs der Ansicht, daß das Volk, nachdem es unter deutsche Herrschaft gekommen war, sei es durch die Leichtfertigkeit seiner unvernünftigen Regierung, sei es durch die zwingende Macht der Umstände, nun überhaupt nicht weiterleben dürfe. Schulen, Eisenbahnen, lokale Selbstverwaltung blieben dort in Betrieb.
Aber bei irgend jemandem (natürlich bei den anderen!) muß das Hirn um hundertachtzig Grad verdreht worden sein. Denn bei uns erhielten die Schullehrer von den Partisanen Drohbriefe: «Wagt es nicht zu unterrichten! Ihr werdet dafür büßen!» Bei der Eisenbahn zu arbeiten galt als Zusammenarbeit mit dem Feind, in der lokalen Selbstverwaltung – als unerhörter, grenzenloser Verrat.
Jedermann weiß, daß ein Kind, wenn es einmal aus dem Lernprozeß gerissen wird, später schwer wieder zurückfindet. Da sich der genialste Stratege aller Völker und Zeiten aus dem Staub gemacht hat – soll nun das Gras wachsen oder verdorren? Sollen die Kinder weiterlernen oder nicht?
Natürlich wird man dafür einen gewissen Preis bezahlen müssen. Aus den Schulen wird man die Porträts mit Schnauzbart entfernen und vielleicht statt dessen Porträts mit Schnurrbärtchen anbringen müssen. Den Neujahrsbaum wird man zu Weihnachten aufstellen müssen, und der Direktor wird an diesem Tag (und vielleicht noch am Gründungstag des Reiches, statt am Revolutionstag) eine Lobrede auf das wunderbare neue Leben halten müssen, während es in Wirklichkeit beschissen ist. Aber auch früher wurden Lobreden auf das wunderbare Leben gehalten – und es war beschissen.
Früher mußte der Lehrer den Kindern viel mehr vorheucheln und vorlügen, denn die Lüge hatte Zeit gehabt, sich in den von Methodikern und Inspektoren skrupulös ausgearbeiteten Lehrprogrammen abzulagern und festzusetzen. In jeder Unterrichtsstunde, ob es passend oder unpassend war, ob die Anatomie der Würmer oder die unterordnenden Konjunktionen behandelt wurden, mußte unbedingt Gott eins verpaßt bekommen (auch wenn du selbst an ihn glaubst); durfte um keinen Preis versäumt werden, unsere grenzenlose Freiheit zu rühmen (auch wenn du nicht ausgeschlafen warst, weil du auf das nächtliche Klopfen an der Tür gewartet hattest); ob es um Turgenjew oder um den Lauf des Dnjepr ging, auf jeden Fall mußte die frühere Armut verdammt und der jetzige Überfluß gepriesen werden (zu einer Zeit, lange vor dem Krieg, als du und deine Kinder erlebten, wie ganze Dörfer ausstarben und Stadtkinder Dreihundert-Gramm-Rationen erhielten).
Das galt jedoch nicht als Verbrechen, weder gegen die Wahrheit noch gegen die Kinderseele, noch gegen den Heiligen Geist.
Das vorübergehende, unsichere Okkupantenregime verlangte viel weniger Lüge, aber zugunsten der anderen! – und das war es, worauf es ankam! Das war der Grund, weshalb die Stimme der Heimat und das Untergrundkomitee der Partei Muttersprache, Geographie, Arithmetik und Naturwissenschaften verboten. Zwanzig Jahre Katorga für den, der sie lehrte!
Landsleute, nickt nur beifällig. Da führt man sie mit Hunden in die Baracke, wo sie neben dem Latrinenkübel schlafen. Werft Steine auf sie – sie haben eure Kinder unterrichtet!
Doch die Landsleute (besonders die aus den privilegienträchtigen Ministerien, diese Stierschädel, die mit fünfundvierzig Jahren in Pension gehen) umringen mich mit geballten Fäusten: Wen nehme ich da in Schutz: Bürgermeister? Starosten? Polizais? Dolmetscher? Alles mögliche Gesindel und Geschmeiß?
Nun gut, steigen wir tiefer. Wir haben schon zu viel Mist gemacht mit unserer Wegwerfeinstellung dem Menschen gegenüber. Früher oder später zwingt uns die Zukunft, die Vergangenheit zu überdenken. Mit Verachtung allein ist es nicht getan, wir werden nicht umhinkönnen, den Gründen nachzugehen.
«Möge der gerechte Zorn …», ertönte es – und wie hätten uns dabei die Haare nicht knistern sollen? Unser angeborener Patriotismus, der verbotene, verhöhnte, vertriebene und verfluchte, plötzlich wurde er erlaubt, gefördert und als heilig gefeiert. Wie hätten wir alle, Russen, uns nicht besinnen und zusammenschließen sollen, dankbaren Herzens und der Großzügigkeit unserer Natur gehorchend, den Eigenbauhenkern verzeihen sollen – angesichts der Henkerarmeen, die von jenseits der Grenze anrückten?! Doch wir unterdrückten unsere
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