Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
Vom Netzwerk:
ihr entscheiden, welche Erziehung sicherer ist: Ihnen von Anfang an Lüge für Wahrheit vormachen (damit sie es im Leben leichter haben) und dann auch noch vor ihnen ewig lügen müssen; oder ihnen die Wahrheit sagen, auf die Gefahr hin, daß sie sich durch Ungeschick oder Unbeherrschtheit verraten, und ihnen daher eintrichtern, daß man außerhalb seiner vier Wände lügen und immer nur lügen muß wie Papa und Mama.
    Vor diese Wahl gestellt, möchte man fast lieber keine Kinder haben.
    9. GRAUSAMKEIT. Bei all den genannten Eigenschaften, wie hätte sich da noch Herzensgüte behaupten können? Der Mensch, der den hilfesuchenden Ertrinkenden zurückstößt, wie soll er gut bleiben? Wer schon mit Blut beschmiert ist, der kann doch nur noch mehr verrohen. Die Grausamkeit («Klassen-Grausamkeit») wurde besungen, die Menschen wurden zu ihr erzogen, da müssen wir ja die Unterscheidung zwischen Gut und Böse verlieren. Und wenn auch noch Güte, Mitleid und Barmherzigkeit verhöhnt werden – dann sind die Bluttrunkenen nicht mehr an der Kette zu halten!
    10. SKLAVEN-MENTALITÄT. An verschiedenen Stellen unseres Landes begegnen wir diesem Standbild: ein gipserner Wachsoldat mit einem Hund, der im Begriff ist loszustürmen, um jemanden zu fassen. In Taschkent steht es immerhin noch vor der NKWD-Schule. In Rjasan ist es, symbolisch für die Stadt, das einzige Denkmal an der Einfahrt von Michailow her.
    Und wir schaudern nicht vor Entsetzen, wenn wir es sehen, wir haben uns gewöhnt an diese Gestalten, die Hunde auf Menschen hetzen.
    Auf uns.

Fünfter Teil
    Die Katorga kommt
wieder

1
Die Verdammten
    Die Revolution ist in ihrer Unschuld oft großzügig. Sie wirft vieles unbesehen über Bord. Zum Beispiel das Wort Katorga. Doch das ist ein gutes Wort, ein starkes Wort. (Im zaristischen Rußland Bezeichnung für Zwangsarbeit in Sibirien.) Es donnert vom Richtertisch nieder wie ein zögernd ausklingendes Fallbeil, schon im Gerichtssaal bricht es dem Verurteilten das Genick und zerstört jede Hoffnung in ihm.
    Stalin hatte eine Vorliebe für alte Wörter. Und sechsundzwanzig Jahre, nachdem die Februarrevolution die Katorga abgeschafft hatte, führte Stalin sie wieder ein.
    Das erste dieser Lager wurde vermutlich im Bergwerk Nr. 17 an der Workuta eingerichtet (bald darauf auch eins in Norilsk und Dscheskasgan). Der Zweck der Lager wurde kaum verhehlt: Die Katorga-Häftlinge sollten physisch vernichtet werden. Das war offener Mord, jedoch, nach GULAG-Tradition, in die Länge gestreckter – um die Qualen der Verdammten zu verlängern und sie vor dem Tod noch etwas arbeiten zu lassen.
    Man brachte sie in «Zelten» zu sieben mal zwanzig Meter unter, wie sie im Norden üblich sind. Die Zelte waren mit Brettern verschalt und mit Sägespänen abgedichtet, so daß sie eine Art leichte Baracken bildeten. Ein solches Zelt hatte, je nachdem ob es mit Wagonkas oder durchgehenden Pritschen ausgestattet war, Platz für achtzig bis hundert Mann. Die Katorga-Häftlinge wurden dort zu zweihundert untergebracht.
    Das war indes keine Zusammenpferchung – das war nur rationelle Wohnraumnutzung! Die Katorga-Häftlinge arbeiteten in zwei Schichten zu je zwölf Stunden, ohne freie Tage; daher waren jeweils hundert Mann bei der Arbeit und hundert in der Baracke.
    Bei der Arbeit waren sie umstellt von Wachmannschaften mit Hunden, sie wurden, wenn sie schlappmachten, geschlagen, und mit Maschinenpistolen aufgemuntert. Auf dem Weg in die Zone konnte es geschehen, daß Konvoisoldaten aus purer Laune MP-Salven in die Kolonne jagten, ohne daß sie jemand zur Rechenschaft gezogen hätte. Die ausgemergelten Kolonnen der Katorga-Häftlinge fielen schon von weitem auf – so mühsam und verloren schleppten sie sich dahin.
    Die zwölf Stunden Arbeit wurden in voller Länge abverlangt. (Den Häftlingen, die in den Polarstürmen von Norilsk mit der Hand Bruchsteine behauten, wurden pro Schicht zehn Minuten Aufenthalt im Wärmeraum zugestanden.) Und die zwölf arbeitsfreien Stunden wurden ihnen nach Möglichkeit verleidet. Auf Kosten der Freizeit gingen der Hin-und Rückmarsch, das umständliche Antreten, das Durchsuchtwerden. In der Wohnzone wurden sie sogleich in die ewig ungelüftete, fensterlose Baracke geführt und eingesperrt. Den ganzen Winter hindurch braute dort eine übelriechende, säuerlich-feuchte Stickluft, die ein Mensch, der sie nicht gewohnt war, keine zwei Minuten ausgehalten hätte. Die Wohnzone außerhalb des Zeltes war den

Weitere Kostenlose Bücher