Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
Vom Netzwerk:
dunklen Zweifel, unsere voreilige Weitherzigkeit und verfluchten um so einmütiger und fanatischer die Verräter, die doch so offenkundig die schlechteren Menschen waren als wir und jetzt nur ihren alten Groll gegen das Regime ausließen.
    Elf Jahrhunderte steht Rußland. Viele Feinde hat es gekannt. Viele Kriege hat es geführt. Aber hat es auch viel Verrat erlebt? Hat es Scharen von Verrätern hervorgebracht? Davon ist nichts bekannt. Es ist auch nicht bekannt, daß die Feinde Rußlands seinen Menschen Verrätermentalität, Treulosigkeit und Opportunismus nachgesagt hätten. Und das alles in einer Gesellschaftsordnung, die dem werktätigen Volk feindlich war.
    Und dann brach der gerechteste aller Kriege aus, auf russischer Seite geführt vom gerechtesten aller Systeme – und plötzlich tauchten in unserem Volk Zehn-und Hunderttausende von Verrätern auf.
    Woher? Warum?
    Vielleicht flammte wieder der Bürgerkrieg auf? Vielleicht waren es Weiße, die wieder ihr Haupt erhoben? Nein! Es wurde bereits erwähnt, daß zahlreiche Weißemigranten (darunter der vielgeschmähte Denikin) für Sowjetrußland gegen Hitler Partei ergriffen. Sie hatten die Freiheit der Entscheidung – und entschieden sich so.
    Diese Zehn-und Hunderttausende – Angehörige von Liquidierungskommandos, Polizais, Starosten, Dolmetscher –, sie waren alle Sowjetbürger. Und es gab nicht wenige junge unter ihnen, die erst nach dem Oktober groß geworden waren.
    Was hat sie dazu veranlaßt? Was waren das für Menschen?
    Das waren vor allem jene, die auf die eine oder andere Weise in das Mahlwerk der zwanziger und dreißiger Jahre geraten waren. Die in den trüben Fluten unserer Kanalisation Eltern, Verwandte oder geliebte Menschen verloren hatten. Oder die selbst mitgerissen und durch Lager und Verbannungsorte gespült worden waren. Die sich die Füße kalt und wund gestanden hatten in den Warteschlangen vor den Gefängnisschaltern. Das waren auch jene, die in diesen grausamen Jahren um das Teuerste auf Erden, die Erde selbst, um ihr Land brutal betrogen worden waren, jenes Land übrigens, das ihnen im Großen Dekret verheißen und für das im Bürgerkrieg Blut vergossen wurde. (Etwas ganz anderes sind die Erbdatschen der Armeeoffiziere und die sorgfältig umzäunten Dienstgüter um Moskau: Das ist für uns, das ist in Ordnung.) Manche hatten vielleicht wegen «Ährenschneidens» gesessen. Anderen hatte man verboten, dort zu leben, wo sie wollten. Oder ihr altehrwürdiges und geliebtes Handwerk zu treiben (wir haben einen fanatischen Handwerkskrieg geführt, aber das ist längst vergessen).
    Von all diesen spricht man bei uns mit verächtlicher Mundbewegung (die Agitatoren tun es mit doppelter, die Napostu- und Oktober -Leute mit dreifacher Verachtung): «ehemalige Repressierte», «ehemalige Kulakensöhnchen», «fühlen sich von der Sowjetmacht beleidigt», «hegen finsteren Groll gegen die Sowjetmacht».
    Der eine sagt es – der andere nickt mit dem Kopf. Als ob damit etwas erklärt wäre. Als ob die Volksmacht das Recht hätte, ihren Bürgern Leid zuzufügen. Als ob darin das Grundübel, der Krebsschaden läge: fühlen sich beleidigt … hegen Groll …
    Und niemand ruft: Zum Teufel noch mal! Bestimmt jetzt bei euch das Sein das Bewußtsein oder nicht? Oder nur dann, wenn es zu eurem Vorteil ist? Und wenn’s zu eurem Nachteil ist, dann nicht?
    Andere haben gelernt, mit leicht umschatteter Stirn zu sagen: «Ja, es wurden gewisse Fehler begangen.» Immer diese unschuldig-verführerische es-Konstruktion – es wurden begangen. Nur weiß niemand, von wem. Es klingt fast so, als wäre sie von den Schwerarbeitern und Kolchosbauern begangen worden. Niemand hat den Mut zu sagen: DIE PARTEI HAT SIE BEGANGEN! Die unabsetzbaren und selbstherrlichen Führer haben sie begangen! Wer sonst als die Machthaber hätten sie «begehen» können? Alles auf Stalin abwälzen – dazu gehört Humor. Stalin hat sie begangen – ja, und wo wart ihr, staatslenkende Millionen?
    Übrigens, selbst diese Fehler sind in unseren Augen sehr rasch zu einem undeutlichen Fleck zerflossen und werden auch nicht mehr als Folge von Beschränktheit, Fanatismus und menschlicher Schlechtigkeit deklariert, sie gelten nur noch deshalb als Fehler, weil Kommunisten Kommunisten einsperrten. Daß jedoch fünfzehn bis siebzehn Millionen Bauern ins Elend gestürzt, in den Untergang getrieben, über das ganze Land zerstreut wurden, ohne das Recht, ihre Eltern zu kennen und zu nennen – das ist

Weitere Kostenlose Bücher