Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
offenbar kein Fehler. Und alle die Ströme unserer Kanalisation, die am Beginn dieses Werks untersucht wurden – sie sind offenbar auch kein Fehler. Und daß wir auf den Krieg mit Hitler in keiner Weise vorbereitet waren, daß wir uns zuerst trügerisch aufblähten und dann mit Schmach und Schande zurückwichen, im Laufschritt die Parolen wechselnd, und daß erst Iwan im Namen des Heiligen Rußland die Deutschen an der Wolga zum Stehen gebracht hat – das wird Stalin nicht als Versagen, sondern fast als größtes Verdienst zugeschrieben.
In zwei Monaten hatten wir dem Feind fast ein Drittel unserer Bevölkerung ausgeliefert, mit all den halbausgerotteten Familien, den vielen tausend Lagern, die sich auflösten, als die Wachmannschaften die Flucht ergriffen, mit den ukrainischen und baltischen Gefängnissen, in denen noch die Schüsse der Achtundfünfziger-Exekutionen nachhallten.
Solange wir uns stark fühlten, haben wir alle diese Unglücklichen gequält, verfolgt, von der Arbeit ausgesperrt, aus den Wohnungen gejagt, dem Krepieren preisgegeben. Kaum zeigte sich unsere Schwäche, da befahlen wir ihnen, all das zugefügte Unrecht zu vergessen, die Eltern und Kinder zu vergessen, die in der Tundra verhungert waren, die Erschossenen zu vergessen, den Verlust von Hab und Gut, unsere Undankbarkeit, die Verhöre und Foltern der NKWD, die Hungerlager – und auf der Stelle zu den Partisanen zu gehen, in den Untergrund und unter Einsatz des Lebens die Heimat zu verteidigen. Sie waren es, die ihre Einstellung zu ändern hatten, nicht wir! Und nichts veranlaßte sie dazu, von uns, wenn wir zurückkehrten, etwas anderes zu erwarten, als wieder nur Verfolgung, Gefängnis, Tod!
Was ist unter diesen Umständen eher verwunderlich – daß sich so viele über den Einmarsch der Deutschen freuten? oder so wenige?
Und die Gläubigen? Zwanzig Jahre lang war der Glaube verfolgt worden, waren Kirchen zugesperrt worden. Dann kamen die Deutschen und begannen die Kirchen zu öffnen. (Die Unsrigen scheuten sich, sie nach Abzug der Deutschen gleich wieder zu schließen.) In Rostow am Don, zum Beispiel, war die Öffnung der Kirchen ein Freudenfest, zu dem die Massen zusammenströmten. Aber sie hätten wohl die Deutschen dafür verfluchen sollen?!
Im selben Rostow wurde in den ersten Kriegstagen der Ingenieur Alexander Petrowitsch M.-W. verhaftet, er starb in der Untersuchungszelle; seine Frau zitterte monatelang in der Erwartung ihrer eigenen Verhaftung – und konnte sich erst nach dem Einmarsch der Deutschen ruhig schlafen legen: «Jetzt kann ich mich wenigstens ausschlafen!» Doch sie hätte wohl um die Rückkehr ihrer Henker beten sollen?!
In Winniza wurden im Mai 1943, während der deutschen Besetzung, im Park neben der Podlesnaja-Straße (der Anfang 1939 vom Stadtsowjet mit einem hohen Bretterzaun umgeben und zum «Sperrgebiet des Verteidigungskommissariats» erklärt worden war) Grabungsarbeiten durchgeführt. Dabei stieß man auf 39 kaum noch erkennbare, von dichtem Gras überwachsene Massengräber, jedes 4 Meter lang, 3 Meter breit und 3,5 Meter tief. In den Gräbern fand man obenauf eine Schicht Kleider, darunter lagen eng geschichtet die Leichen. Allen waren die Hände gefesselt, alle waren durch Genickschüsse aus Kleinkaliberpistolen getötet worden. Offensichtlich wurden die Häftlinge im Gefängnis erschossen und die Leichen nachts hierhergebracht und verscharrt. Anhand von erhaltengebliebenen Dokumenten stellte man fest, daß sich unter den Erschossenen Personen befanden, die 1938 zu «zwanzig Jahren ohne Briefrecht» verurteilt worden waren. Auf einem Bild sind Einwohner von Winniza zu sehen, die, nach der Öffnung der Gräber, gekommen sind, um zu schauen oder ihre Angehörigen zu identifizieren. Aber das war noch nicht alles. Im Juni begann man beim Pirogow-Krankenhaus unweit der orthodoxen Kirche zu graben und entdeckte weitere 42 Gräber. Dann suchte man im «Gorkipark für Kultur und Erholung» und fand unter Schießbuden, Lachkabinetten, Spiel-und Tanzplätzen – vierzehn Massengräber. Insgesamt 95 Gräber mit 9439 Leichen. Und das nur in Winniza, wo man durch Zufall darauf gestoßen war. Wie viele solche Massengräber gibt es in anderen Städten? Und die Bevölkerung, die diese Leichen sah, hätte sich spontan zu den Partisanen schlagen sollen?
Vielleicht sollte man gerechterweise einmal anerkennen, daß, wenn es uns weh tut, getreten zu werden, es auch jenen weh tut, die wir treten? Vielleicht sollte man
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