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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Katorga-Häftlingen noch weniger zugänglich als die Produktionszone. Man ließ sie weder auf die Aborte noch in die Kantine, noch in das Krankenrevier. Für all das gab es entweder den Latrinenkübel oder die Futterklappe. Das war die Stalin-Katorga der Jahre 1943/44: eine Verbindung von Lager und Gefängnis in ihrer übelsten Erscheinungsform.
    Auf die zwölf Stunden «Erholung» entfielen auch die Morgen-und Abendkontrolle – ein umständliches, namentliches Aufrufen. Und auch die zweimalige Essenausgabe. Die Schüsseln wurden durch ein Fensterchen ausgegeben und wieder eingesammelt.
    Da die Nachwelt aus den Verpflegungslisten nicht erfahren sollte, daß die Katorga-Häftlinge auch durch Hunger vernichtet wurden, hatten sie aufgrund dieser Listen Anspruch auf kümmerliche und zudem noch dreifach geplünderte Zusatzportionen, sogenannte «Bergarbeiter-» und «Prämienportionen».
    Die ganze Essenausgabe wurde durch eine Klappe abgewickelt, es war eine langwierige Prozedur, mit Aufruf der Namen und Ausgabe der Schüsseln gegen Bons. Und wenn es endlich so weit war, daß man auf die Pritsche sinken und einschlafen konnte, öffnete sich wieder die Klappe, wieder wurden Namen ausgerufen, und es begann die Rückgabe derselben Bons für den nächsten Tag.
    So blieben von zwölf Stunden Gefangenenfreizeit kaum vier ruhige Stunden, um zu schlafen.
    Natürlich bekamen die Katorga-Häftlinge nichts gezahlt, sie durften weder Pakete noch Briefe empfangen.
    All das bewirkte, daß die Katorga-Häftlinge auf das Regime gut ansprachen und rasch starben.
    Aber ich höre bereits meine Landsleute und Zeitgenossen empört rufen: Nun machen Sie aber Schluß! Ist Ihnen denn nicht klar, von wem Sie reden! Ja, sie waren zur Vernichtung bestimmt – und mit Recht! Das waren doch Verräter, Polizais, Burgomistr ! Recht geschah ihnen! Tun die Ihnen am Ende gar leid?? Und die Frauen dort, das waren doch deutsche Matratzen ! – tönen mir Frauen stimmen entgegen.
    Zunächst, was die Frauen betrifft. Hat nicht die gesamte Weltliteratur (vor der Stalinzeit) die Unabhängigkeit der Liebe von nationalen Schranken, vom Machtwort der Generäle und Diplomaten besungen? Wir haben auch hier die Stalinsche Denkweise übernommen: Ohne Ukas des Präsidiums des Obersten Sowjets kein Verkehr! Dein Körper ist in erster Linie Eigentum des Vaterlandes.
    Vor allem – wie alt waren sie, als sie mit dem Feind nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im Bett zusammentrafen? Sicher nicht älter als dreißig, vielleicht nur fünfundzwanzig. Das heißt, daß sie von ihren ersten Kindheitstagen an nach dem Oktober, in sowjetischen Schulen und in der sowjetischen Ideologie erzogen wurden! Also trifft unser Zorn die Früchte des eigenen Wirkens? Manche dieser Mädchen dachten wohl so, wie wir es ihnen fünfzehn Jahre unablässig eingehämmert hatten – daß es keine Heimat gebe, daß das Vaterland eine reaktionäre Erfindung sei. Andere waren vielleicht angewidert von dem puritanischen Mief unserer Versammlungen und Demonstrationen, unserer Filme ohne Küsse und Tanzabende ohne Umarmungen. Und wieder andere hatten einfach Hunger – ja, ganz primitiven Hunger, das heißt, sie hatten nichts zu kauen.
    Aber wer ist da schuld? Wer? Diese Frauen? Oder – wir, wir alle, Landsleute und Zeitgenossen? Was sind wir für Menschen, daß unsere Frauen uns verließen und den Okkupanten nachliefen? Ist das nicht ein Teil des gewaltigen Preises, den wir zahlen, weiterzahlen und noch lange zahlen werden dafür, daß wir uns auf dieses sowjetische Abenteuer eingelassen haben, blind, überstürzt und ohne Rücksicht auf Verluste?
    «Gut, aber die Männer haben es doch verdient?! Das waren Verräter der Heimat und soziale Verräter.»
    Doch bleiben wir nicht auf halbem Weg stehen.
    Und die Lehrer? Jene Lehrer, die unsere in Panik zurückflutende Armee samt Schulen und Schülern ihrem Schicksal überlassen hatte, für ein, zwei oder drei Jahre? Weil Stalin ahnungslos war, weil der Generalstab kopflos war, die Stabsintendanten dumm, die Generäle schlecht waren – was sollten sie, die Lehrer, jetzt tun? Unterrichten oder nicht unterrichten? Und was sollten die Kinder tun – nicht die älteren, die schon fünfzehn waren und verdienen oder zu den Partisanen gehen konnten, sondern die kleinen? Sollten sie lernen oder zwei, drei Jahre wie die Hammel leben und für die Fehler des Obersten Befehlshabers büßen? Geschieht dem Vater schon recht, wenn ich mir die Hände abfrier, warum gibt er

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