Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
daß es überhaupt keinen Fluchtversuch gegeben hat ! Jawohl! Die Jungs erklären einhellig, daß sie auf der Ladefläche dösten, als sich der Wagen plötzlich in Bewegung setzte, dann krachten auch schon die Schüsse; zum Abspringen war es zu spät, sie hätten leicht erschossen werden können. Und Jasdik? Jasdik ist unerfahren, kam mit dem Wagen nicht zu Rande, aber er ist ja nicht in die Steppe hinausgefahren, sondern zum Bergwerk hin.
So blieb es bei den Fußtritten.
Am 9. Mai 1950, dem fünften Jahrestag des Sieges über Deutschland, betritt der Seemann und Kriegsteilnehmer Tenno das berühmte Gefängnis von Kengir.
Das Gefängnis beherbergt eine erlesene Gesellschaft, die sich aus verschiedenen Lagern rekrutiert. In allen Zellen sitzen erfahrene Ausbrecher – eine seltene Sammlung von Teufelskerlen. Endlich ist Enno unter überzeugten Ausbrechern!
Es ist ihnen nicht vergönnt, lange an einem Ort zu verweilen! Die überzeugten Ausbrecher werden, wie Fliegende Holländer, immer weitergetrieben von ihrem unruhigen Schicksal. Und wenn sie nicht auf der Flucht sind, dann sind sie auf dem Transport. Die ganze unbändige Gesellschaft wird in Handschellen nach Ekibastus befördert, ins Gefängnis.
In einem Monat bereits drei Fluchtversuche in Ekibastus – und Tenno wartet noch immer! Er verzehrt sich in eifersüchtigem Selbst-getan-haben-Wollen. Als Außenstehender sieht man klar die Fehler und glaubt immer, daß man es besser gemacht hätte.
Schdanok ist ein kleiner, wendiger, schwarzhaariger Bursche, mit etwas Kriminellenpfiff. Er kann, wenn er Feuer fängt, enorme Energie entwickeln und sich richtig hineinsteigern, sei es in die Arbeit, in eine Rauferei oder in irgendein Vorhaben. Natürlich fehlt ihm die Ausdauer, aber Ausdauer hat Tenno.
Alles spricht dafür, daß sie vom Kalkwerk aus fliehen müssen.
Einmal geht das Elektrokabel der Mörtelmischmaschine im Kalkwerk kaputt. Man läßt einen Elektromonteur von draußen kommen. Tenno hilft ihm bei der Reparatur, Schdanok klaut unterdessen die Beißzange aus der Tasche.
Ebenfalls im Kalkwerk fertigen sich die Ausbrecher zwei Messer an: Mit Meißeln trennen sie von Schaufelblättern zwei Streifen ab, schärfen und härten sie in der Schmiede und gießen in Lehmformen zwei Griffe aus Zinn dazu. Tenno macht sich ein «türkisches» Messer, es soll nicht nur zum Schneiden dienen, seine krumme, blitzende Klinge soll auch Angst machen. Und das ist sogar wichtiger. Sie haben ja nicht vor, Menschen umzubringen, sondern Menschen einzuschüchtern.
Beißzange und Messer werden beim Fußknöchel unter die Unterhose geschoben, auf diese Weise in die Wohnzone geschmuggelt und dort unter dem Barackensockel versteckt.
Der entscheidende Schlüssel zur Flucht ist wieder die KWTsch. Während noch die Messer hergestellt und in die Wohnzone geschafft werden, erklärt Tenno in gewohnter Weise, daß er zusammen mit Schdanok am bevorstehenden Laienkunstabend teilnehmen möchte. Tenno und Schdanok erhalten die Erlaubnis, die Regimebaracke auch nach dem Zusperren zu verlassen, wenn die Zone noch zwei Stunden lang voll Leben und Bewegung ist. Sie schlendern durch die Zone, die ihnen noch unbekannt ist, und registrieren, wie und wann die Posten auf den Wachttürmen abgelöst werden, wo man sich am besten an den Stacheldraht heranpirschen kann. In der KWTsch selbst liest Tenno aufmerksam die Pawlodarer Gebietszeitung und versucht, sich die Bezeichnungen der Bezirke, Sowchosen und Kolchosen, sowie die Namen ihrer Vorsitzenden, Sekretäre und diverser Bestarbeiter zu merken. Ferner erklärt er, daß sie einen Sketch spielen werden und dazu ihre Zivilkleider aus dem Magazin sowie irgendeine Aktentasche benötigen. (Mit einer Aktentasche fliehen – das ist ungewöhnlich! Eine Aktentasche verleiht einem etwas Amtliches!) Auch das wird genehmigt.
Der Sketch erfordert jedoch so viele Proben, daß die Zeit bis zum Abendsignal nicht reicht. Daher bleiben Tenno und Schdanok eine Nacht und noch eine zweite überhaupt aus und schlafen in der KWTsch-Baracke. So gewöhnen sie die Aufseher in der Regimebaracke an ihre Abwesenheit. (Es gilt bei der Flucht zumindest eine Nacht zu gewinnen!)
Wann ist der günstigste Zeitpunkt für die Flucht? Während der Abendkontrolle. Wenn sich alles vor den Baracken staut, wenn die Aufseher mit dem Einlassen beschäftigt sind, die Häftlinge nur mehr auf die Barackentür schauen und ans Schlafen denken und niemand sich um den Rest der Zone kümmert. Die Tage
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