Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
wandern da und dort Kasachen mit ihren Herden, sonst ist sie menschenleer. Flüsse gibt es nicht, auf Brunnen zu stoßen ist fast unmöglich. Die beste Zeit für die Flucht ist April und Mai, wenn stellenweise noch Schmelzwassertümpel zurückgeblieben sind. Doch das wissen auch die Bewacher sehr gut. In diesen Monaten werden die Häftlinge, die zur Arbeit ausrücken, strenger durchsucht, kein Stück Brot, kein Fetzen Stoff, außer dem Notwendigsten, darf mitgenommen werden.
Tenno, der seine Mithäftlinge schon recht gut kennt, organisiert rasch eine Vierergruppe: Mischa Chaidarow (war sowjetischer Marineinfanterist in Nordkorea, floh vor dem Militärgericht über den 38. Breitengrad, wurde von den Amerikanern, die die guten, stabilen Verhältnisse in Korea nicht gefährden wollten, ausgeliefert und erhielt fünfundzwanzig Jahre); Jasdik, ein polnischer Chauffeur aus der Anders-Armee (charakterisiert seine Lebensgeschichte anschaulich anhand seiner ungleichen Stiefel: «Der eine ist von Hitler her, der andere von Stalin»); und Sergej, ein Eisenbahner aus Kuibyschew.
Gerade zur richtigen Zeit, zu Beginn der Mittagspause, kommt ein Lastwagen, der die Pfähle für die zukünftige Zone und Stacheldrahtrollen bringt. Tennos Gruppe, die Katorga-Arbeit liebt und besonders gern beim Zonenbau hilft, bietet sich freiwillig an, den Lastwagen während der Mittagspause zu entladen. Die vier klettern auf den Wagen, aber da es doch Mittagszeit ist, strengen sie sich wenig an und überlegen. Der Fahrer hat sich verkrümelt. Die anderen Häftlinge liegen herum und wärmen sich an der Sonne.
Sollen sie fliehen oder nicht? Sie haben nichts mit – weder Messer noch Ausrüstung, noch Proviant, noch Plan. Immerhin, wenn sie mit dem Wagen fliehen, so weiß Tenno von der kleinen Landkarte her, daß sie zuerst Richtung Dschesdy müssen, dann nach Ulutau. Die Herzen schlagen stärker: eine Gelegenheit! eine Gelegenheit!
Die Strecke zum «Tor» hin, wo der Wachtposten steht, ist abschüssig. Kurz danach biegt der Weg um einen Hügel. Wenn sie schnell genug fahren, entkommen sie den Kugeln. Und die Wachen werden sicher nicht ihre Posten verlassen!
Sie haben abgeladen – die Mittagspause ist noch nicht zu Ende. Jasdik wird lenken. Er springt zu Boden und macht sich am Wagen zu schaffen. Die drei anderen strecken sich inzwischen faul auf der Ladefläche aus und machen sich unsichtbar, vielleicht haben gar nicht alle Wachen bemerkt, wohin sie verschwunden sind. Jasdik holt den Fahrer: Dafür, daß wir so schnell abgeladen haben, kannste eine Zigarette springen lassen. Sie rauchen eine Zigarette. Also, dann fahr! Der Fahrer steigt ein und startet, doch der Motor springt nicht an, es ist wie verhext. (Die drei auf der Ladefläche wissen nichts von der Absicht Jasdiks und glauben schon, daß es schiefgegangen ist.) Jasdik macht sich erbötig, die Kurbel zu drehen. Der Motor springt noch immer nicht an. Jasdik ist vom Kurbeln schon erschöpft, er schlägt dem Fahrer vor abzuwechseln. Jetzt setzt sich Jasdik ans Steuer. Und sofort heult der Motor auf, und der Wagen rollt auf den Torpfosten zu! (Später erzählt Jasdik, was war: Er hatte den Benzinhahn zuerst zugedreht und dann, als er sich ans Steuer setzte, unbemerkt wieder geöffnet.) Der Fahrer beeilt sich nicht einzusteigen, er nimmt an, daß Jasdik stehenbleibt. Doch der Wagen braust bereits durch das «Tor».
Zweimal tönt es: «Halt!» Der Wagen fährt weiter. Die Wachen schießen – zuerst in die Luft (das Ganze schaut zu sehr nach Irrtum aus). Vielleicht auch auf den Wagen, die Ausbrecher wissen es nicht, sie liegen flach. Die Biegung kommt. Jetzt sind sie hinter dem Hügel – vor den Schüssen gerettet! Doch die drei halten die Köpfe noch gesenkt. Es stößt und rüttelt, der Wagen rast dahin. Und dann plötzlich – bleibt er stehen, und Jasdik ruft verzweifelt: Er hat den Weg verfehlt! Sie sind vor dem Zechentor gelandet, vor den eigenen Wachttürmen!
Wieder Schüsse. Konvoisoldaten kommen gelaufen. Die Ausbrecher springen vom Wagen, werfen sich auf den Boden, das Gesicht nach unten, und halten die Hände über den Kopf. Denn die Konvoisoldaten treten mit den Stiefeln und versuchen bewußt, Kopf, Ohren, Schläfen und Rückgrat zu treffen.
Der allgemein anerkannte Humangrundsatz, daß man «einen Liegenden nicht schlägt», gilt in der Stalin-Katorga nicht! Gerade der Liegende wird bei uns geschlagen! Auf den Stehenden wird geschossen.
Doch beim Verhör stellte sich heraus,
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