Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
springen nicht. Das sind keine überzeugten Ausbrecher. (Bist du überhaupt selbst schon einer?)
In der Dunkelheit, beim Schein von Lampen, unter Brüllen und Fluchen, vermischt mit Hundegebell und Verschlüsse-Klicken, werden sie in die Viehwaggons getrieben. Hier wird Tenno seinem Grundsatz untreu – er unterläßt es, seinen Waggon von außen genau anzusehen. (Ein überzeugter Ausbrecher muß alles rechtzeitig sehen, ihm darf nichts entgehen!)
Auf den Stationen werden die Waggons sorgsam abgeklopft. Jede Planke wird abgeklopft. Was fürchten sie? Daß eine Planke durchgesägt wird. Also – dann werden wir es machen!
Es findet sich auch schon ein Stück geschliffene Messerklinge (die Kriminellen rücken damit heraus). Man beschließt, eine Planke an der Stirnwand des Waggons unterhalb der Pritschen durchzuschneiden. Jedesmal wenn der Zug langsamer wird, sollen welche durch die Öffnung kriechen, sich zwischen die Schienen fallen lassen und liegenbleiben, bis der Zug vorüber ist. Allerdings behaupten die Kenner, daß am Schlußwaggon eines Gefangenenviehzuges oft ein Metallrechen angebracht ist, dessen Zinken knapp über die Schwellen streichen. Der Ausbrecher wird von ihnen erfaßt und zu Tode geschleift.
Die ganze Nacht sind sie am Werk. Abwechselnd kriechen sie unter die Pritsche und bearbeiten mit ihrer nur wenige Zentimeter langen Säge, die mit einem Stoffetzen gehalten werden muß, das Brett in der Waggonwand. Es ist mühsam. Aber schließlich sind sie an einer Stelle durch. Das Brett beginnt nachzugeben. Als sie es zurückbiegen – es ist bereits Morgen –, fällt ihr Blick auf eine frische, ungehobelte Holzfläche. Warum frisch? Im Nu ist alles klar: Am Waggon ist eine zusätzliche Plattform für den Konvoisoldaten angebracht worden. Direkt über dem Spalt steht ein Wachtposten. Mit dem Durchsägen ist es aus.
Die Flucht aus dem Kerker hat, wie jede menschliche Tätigkeit, ihre Geschichte und ihre Theorie. Es ist gut, sie zu kennen.
Die Geschichte – das sind die schon unternommenen Ausbrüche. Über ihre Technologie erscheinen keine populären Broschüren, die Tscheka-Einsatzstellen sammeln die Erfahrung für sich. Die Geschichte kann man von anderen Ausbrechern erfahren, die gefaßt wurden. Ihre Erfahrung ist teuer erkauft – es ist blutige, leidvolle Erfahrung, die fast das Leben gekostet hätte. Ausbrecher der Reihe nach über ihre Fluchtversuche ausfragen, in allen Einzelheiten, Schritt für Schritt, ist jedoch kein harmloser Spaß, das ist sehr gefährlich. Das ist fast ebenso gefährlich, wie wenn man herumfragt: «Wer weiß, über wen man einer Untergrundorganisation beitreten kann?»
Doch Tenno betreibt das Ausfragen mit Leidenschaft, wo immer und wann immer er Gelegenheit dazu hat. Er unternimmt Ausbrüche, wird eingefangen, kommt ins Lagergefängnis und sitzt dort erst recht wieder unter Ausbrechern, von denen er Erfahrungen sammelt. (Freilich, nicht ohne Fehlschläge. Stepan, ein ehemaliger Fluchtheld, verrät ihn an Beljajew, den Einsatzbevollmächtigten von Kengir, der Tenno sämtliche Fragen, die er stellte, vorhält.)
Die Theorie dagegen ist sehr einfach: Mach’s, so gut du es kannst. Bist du entkommen – kennst du die Theorie. Wirst du geschnappt – beherrschst du sie eben noch nicht. Die elementarsten Weisheiten sind folgende: Fliehen kann man von der Arbeitsstelle, vom Objekt und aus der Wohnzone. Vom Objekt ist es leichter, denn Objekte gibt es viele, ihre Bewachung ist nicht so eingespielt, und der Ausbrecher hat dort Werkzeug zur Verfügung. Fliehen kann man allein – das ist schwieriger, aber niemand verrät dich. Fliehen kann man zusammen mit anderen – das ist leichter, doch hängt alles davon ab, ob ihr zueinander paßt oder nicht. Ferner verlangt die Theorie: Man muß die geographischen Verhältnisse so gut kennen, daß einem die Karte förmlich vor Augen steht. Im Lager jedoch bekommst du keine Karte zu sehen. Noch einen Grundsatz gibt es: Du mußt das Volk kennen, durch dessen Gebiet dein Fluchtweg führt. Und eine methodische Regel: Du mußt deine Flucht gut planen und vorbereiten, doch jeden Augenblick darauf gefaßt sein, dich völlig umstellen und improvisieren zu müssen.
Das erste Lager Tennos war Noworudnoje bei Dscheskasgan. Das Lager, das mehr als alle anderen bestimmt ist, dich zu vernichten. Wenn fliehen, dann von hier! Rundherum ist Wildnis, Salzmoraste und Sanddünen wechseln ab mit festem, gras-oder distelbewachsenem Boden. In dieser Steppe
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