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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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seine Stunden gezählt waren?
    Das Herz hämmerte. Es war die Nacht vor einem Fest. Oder einer Hinrichtung.
    Doch es kam ganz anders. Um Mitternacht betrat ein anderer Untersuchungsrichter den Raum und flüsterte Lewschin etwas ins Ohr. Das war noch nie dagewesen. Lewschin machte hastig Schluß, drückte den Rufknopf und ließ den Häftling abholen.
    Alles war aus … Tenno kehrte in die Zelle zurück und legte die Stange auf ihren Platz.
    Ein anderes Mal, als er zum Verhör gerufen wurde, war sein Gesicht voller Bartstoppeln, es war sinnlos, die Stange überhaupt mitzunehmen.
    Und dann kam ein Tag-Verhör, das einen eigenartigen Verlauf nahm: Der Untersuchungsrichter knurrte nicht seine üblichen Drohungen, sondern machte die entmutigende Bemerkung, daß Tenno fünf bis sieben Jahre bekommen werde und keinen Grund hätte zu verzweifeln. Und Tenno brachte nicht mehr den Haß auf, ihm den Schädel einzuschlagen. Sein Haß erwies sich als unbeständig.
    Die Hochstimmung war vorbei. Ihm schien, daß die Chancen zu gering seien; so riskant spielt man nicht.
    Ein Ausbrecher ist in seinen Stimmungen vielleicht noch unberechenbarer als ein Künstler.
    Und die ganze lange Vorbereitung war umsonst …
    Doch ein Ausbrecher muß auch darauf gefaßt sein. Er hat schon hundertmal die Stange niedersausen lassen, er hat schon hundert Lewschins erschlagen. Er hat schon zehnmal seine Flucht in allen Einzelheiten erlebt – im Verhörraum, am Postenfenster vorbei, bis zur Torwache, und nach der Torwache –, er ist erschöpft von dieser Flucht, und hat sie nicht einmal begonnen.
    Bald darauf bekam er einen neuen Untersuchungsrichter und wurde in die Lubjanka überstellt. Hier traf Tenno keine Fluchtvorbereitungen (der Verlauf des Untersuchungsverfahrens schien ermutigend, zur Flucht fehlte ihm die Entschlossenheit), aber er beobachtete unablässig und entwarf rein übungshalber einen Fluchtplan.
    Doch die vage Hoffnung auf irgendeine Gnade oder Vernunft nimmt dem Willen Tennos das klare Ziel. Erst in der Butyrka löst sich der Druck: Auf einem Fetzen Papier mit OSO-Aufdruck steht sein Urteil, es wird ihm vorgelesen – fünfundzwanzig Jahre. Er unterschreibt – und spürt, wie ihm leichter wird, wie ein Lächeln um seine Lippen spielt, und wie ihn die Füße rasch und leicht in die Zelle der Fünfundzwanziger tragen. Dieses Urteil befreit ihn von Demütigung, von Gewissenshandel, von Kriechen-und Kuschenmüssen, von den versprochenen fünf oder sieben Almosenjahren: Fünfundzwanzig Jahre, so ist das also gemeint??? – dann gibt’s nur eines: Flucht!!!
    Was immer die anderen suchen, Tenno sucht eines: Berichte über Ausbrüche und Häftlinge, die an solchen beteiligt waren.
    In Kuibyschew wird ein großer roter Transport zusammengestellt: Die Häftlinge werden in offenen Lastwagen aus dem Durchgangsgefängnis zum Bahnhof gebracht. Im Gefängnis erhält Tenno von einem einheimischen Ganoven, der «Sympathien für Ausbrecher hat», zwei Kuibyschewer Adressen, wo man fürs erste Unterstützung erhalten kann. Er gibt die Adressen an zwei andere Fluchtwillige weiter und vereinbart mit ihnen folgendes: Alle drei sollten versuchen, sich in die hinterste Reihe zu setzen und, wenn der Wagen in der Kurve langsamer fährt (nicht umsonst haben Tennos Hüften auf der Fahrt vom Bahnhof im finsteren Gefängniswagen diese Biegung registriert), gleichzeitig auf die Straße springen! Einer nach rechts, der andere nach links, der dritte nach hinten – an den Konvoisoldaten vorbei, falls nötig, mit Gewalt! Die Bewacher werden schießen, aber sicher nicht alle drei treffen. Wenn sie überhaupt schießen – denn auf der Straße sind Menschen. Werden sie die Verfolgung aufnehmen? Nein, sie dürfen die Häftlinge im Wagen nicht allein lassen. Also werden sie nur schreien und in die Luft schießen. Wenn jemand die drei festhält, dann die Menschen auf der Straße, unsere Sowjetmenschen, die Passanten. Die Ausbrecher müssen bluffen, so tun, als hätten sie Messer in den Händen!
    Die drei wenden bei der Filzung verschiedene Tricks an, um länger zu bleiben und erst nach Einbruch der Dämmerung und mit dem letzten Wagen zu fahren. Der letzte Wagen kommt, aber … es ist kein Dreitonner mit niedrigen Seitenwänden wie die anderen, sondern ein Studebaker mit hohen Seitenwänden. Tenno kann nicht einmal drübersehen, als er sich setzt. Der Studebaker fährt schnell. Die Biegung! Tenno blickt seine Kampfgefährten an – in ihren Augen ist Angst. Nein, die

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