Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Kätzchen
In diesem Kapitel erzählt Georgij Tenno seine abenteuerliche Flucht geschichte. Todesmutig schlugen er und Kolja Schdanok sich fast einen Monat lang durch Sibirien. Schließlich wurden sie wieder gefangengenommen und zu langen Freiheitsstrafen verurteilt. Nach seiner Entlassung aus dem Lager starb Tenno an Krebs.
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Flucht-Moral und Flucht-Technik
Ausbrüchen aus ITL-Lagern, soweit sie nicht Wien oder Alaska zum Ziel hatten, standen die GULAG-Herren und GULAG-Instruktionen offenbar versöhnlich gegenüber. Solche Ausbrüche wurden als naturhaftes Ereignis verstanden, als Materialverlust, der in einer übergroßen Wirtschaft unvermeidlich ist, ähnlich wie Viehsterben, Holzabgang und Ziegelbruch.
Anders in den Sonderlagern. Nach dem besonderen Wunsch und Willen des Völkervaters wurden diese Lager mit vielfach verstärkter Bewachung und Bewaffnung ausgestattet, die dem Stand moderner motorisierter Infanterie entsprach. Schon bei der Gründung der Sonderlager wurde in den Instruktionen festgelegt, daß es Flucht aus diesen Lagern gar nicht geben darf, denn die Flucht eines Sonderlagerhäftlings ist soviel wie der Grenzübertritt eines ausländischen Meisterspions, ist ein politischer Schandfleck für die Lagerleitung und die Befehlshaber der Wachtruppen.
Doch vom selben Augenblick an bekamen die Politischen durch die Bank nur mehr Fünfundzwanziger statt Zehner, das heißt nach dem Kriminalkodex die Höchststrafe. Diese sinnlose nivellierende Verschärfung hatte eine immanente Schwäche: Wie Mörder durch nichts von neuen Morden abgehalten werden konnten (ihre Zehner wurden nur jedesmal wieder aufgewärmt), so waren die Politischen jetzt durch das Strafsystem nicht mehr von der Flucht abzuhalten.
Wenn es auch in den Sonderlagern weniger Ausbrüche gab als in den ITL-Lagern (die Sonderlager existierten freilich nicht so lange), so waren diese Ausbrüche doch schwerer, bedingungsloser, hoffnungsloser – und daher ruhmvoller.
Ihre Geschichte hilft uns die Frage beantworten: War unser Volk damals wirklich so duldsam und willfährig?
Hier einige Beispiele.
Ein Jahr vor Tennos Flucht wurde ein Ausbruch unternommen, der ihm als Vorbild diente. Im September 1949 flüchteten aus der 1. Abteilung des Step-Lag (Rudnik, Dscheskasgan) zwei Katorga-Häftlinge: Grigorij Kudla, ein untersetzter älterer Ukrainer, der ernst und bedächtig wirkte (wenn er jedoch gereizt wurde, entwickelte er Saporoger Kosakentemperament, und dann fürchteten ihn sogar die Kriminellen), und Iwan Duschetschkin, ein stiller, etwa fünfunddreißigjähriger Weißrusse. In einem alten Teil des Bergwerks, wo sie arbeiteten, fanden sie ein Schurfloch, das oben durch ein Gitter abgeschlossen war. Während der Nachtschichten lockerten sie nach und nach dieses Gitter, und gleichzeitig schafften sie Zwieback, Messer und eine Wärmflasche, die sie im Krankenrevier entwendet hatten, in das Schurfloch. Als sie in der vereinbarten Nacht in die Grube einfuhren, erklärten sie getrennt ihrem Brigadier, daß sie sich krank fühlten, nicht arbeiten könnten und etwas liegen möchten. Nachts gibt es in der Grube keine Aufseher, der Brigadier ist Alleinherrscher, aber er darf nicht zu unerbittlich sein, sonst kann es passieren, daß er einmal mit eingeschlagenem Schädel gefunden wird. Die beiden Ausbrecher füllten Wasser in die Wärmflasche, nahmen ihre sonstigen Vorräte und verschwanden ins Schurfloch. Dann brachen sie das Gitter aus und kletterten an die Oberfläche. Der Ausstieg lag knapp neben den Wachttürmen, aber außerhalb der Zone. Sie entkamen unbemerkt.
Am Tag lagen sie versteckt, bei Nacht marschierten sie. Doch sie stießen nirgends auf Wasser, und nach einer Woche war Duschetschkin so weit, daß er nicht mehr aufstehen wollte. Kudla versuchte ihm Hoffnung zu machen – vor ihnen seien Hügel, dort könnte es Wasser geben – und brachte ihn noch einmal auf die Beine. Sie schleppten sich bis zu der Stelle, doch was sie in den Mulden fanden, war nicht Wasser, sondern Schlamm. Da sagte Duschetschkin: «Ich geh sowieso nicht weiter. Stich mich ab und trink mein Blut!»
Morallehrer! Welche Entscheidung ist richtig? Auch Kudla sieht schon Kreise vor den Augen. Duschetschkin stirbt sicher – warum soll auch Kudla zugrunde gehen? Doch wenn er danach Wasser findet, wie wird er die Erinnerung an Duschetschkin ertragen? … Kudla beschloß: Ich gehe weiter, finde ich in der Nacht kein Wasser, erlöse ich ihn von seinen Qualen, es hat keinen Sinn,
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