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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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ungefährliche Alte Leutchen dreht – vielleicht merkt ihr euch auch die Szene mit diesem Alten?) Die Menge wurde erregt und drängte näher: «Laßt sie frei! Laßt sie frei!» Eine Milizabteilung tauchte auf. Sie war stärker als die Menge und trieb sie auseinander.
    Der Zug lief ein, die Ausbrecher traten die Fahrt nach Kengir an.

9
Die MP-Söhnchen
    Die Bewacher des Archipels wechselten. Er wurde bewacht von Tschekisten in langen Mänteln mit schwarzen Aufschlägen. Er wurde bewacht von Soldaten der Roten Armee. Er wurde bewacht von Selbstbewachern. Er wurde bewacht von alten Reservisten. Schließlich kamen junge, kernige Burschen, die so alt waren wie der erste Fünfjahresplan, die den Krieg nicht miterlebt hatten; sie hängten die nagelneuen MPs um und begannen uns zu bewachen.
    Zweimal jeden Tag marschieren wir eine Stunde lang zusammen, verbunden durch ein unsichtbares Band des Todes: Jeder von ihnen ist frei, jeden von uns zu töten.
    Wir gehen, ohne auf sie zu achten, ohne hinzuschauen – wozu brauchen wir sie? Sie gehen und blicken fortwährend auf unsere dunklen Reihen. Sie müssen uns laut Dienstvorschrift immer im Auge behalten, so ist es ihnen befohlen, darin besteht ihr Dienst. Jede unerlaubte Bewegung, jeden unerlaubten Schritt haben sie durch Waffengebrauch zu unterbinden.
    Wie müssen wir ihnen vorkommen, in unseren schwarzen Jacken, in unseren grauen Stalinpelz-Mützen, in unseren unförmigen, jahrzehntealten Filzstiefeln, hinten und vorn bepflastert mit Nummernflecken, wie man es bei richtigen Menschen doch nicht machen würde!
    Ist es verwunderlich, wenn unser Anblick Abscheu erregt? Das soll er ja auch, unser Anblick.
    Diese Bürschchen haben ihre Blicke immer auf uns gerichtet – ob sie uns begleiten, ob sie auf dem Wachtturm stehen, doch es ist ihnen nicht gewährt, etwas über uns zu wissen, es ist ihnen nur das Recht gewährt, ohne Warnung zu schießen!
    Oh, würden sie abends zu uns in die Baracken kommen, sich zu uns auf die Wagonkas setzen und zuhören: weswegen dieser Alte da oder jener Familienvater sitzt. Die Wachttürme würden veröden und die Maschinenpistolen verstummen.
    Doch die ganze Raffiniertheit und Stärke des Systems liegt darin, daß unsere Bewacher in Unwissenheit gehalten werden. Mitgefühl mit uns wird als Heimatverrat geahndet, der Wunsch, mit uns zu sprechen, als Bruch des heiligen Eides. Wozu sollen sie auch mit uns sprechen, wenn es einen Politruk gibt, der zur festgesetzten Stunde erscheint und einen Vortrag hält – über die politische und moralische Natur der ihnen zur Bewachung anvertrauten Volksfeinde?!
    Der Politruk kommt nie aus dem Konzept, der Politruk verspricht sich nie. Er wird seinen Schützlingen nie sagen, daß die Menschen hier einfach wegen ihres Gottesglaubens oder wegen ihres Wahrheitsdranges oder wegen ihrer Gerechtigkeitsliebe sitzen. Oder – überhaupt ohne Grund.
    Ein ehemaliger Konvoisoldat erinnert sich an einen solchen Politvortrag (Nyrob-Lag): «Leutnant Samutin – schlaksige Gestalt, schmale Schultern, spitzer Kopf. Erinnert an eine Schlange. Weiße Haut, fast keine Brauen. Wir wissen, daß er früher eigenhändig Häftlinge erschossen hat. Jetzt hält er mit monotoner Stimme Politvorträge: ‹Die Volksfeinde, die ihr bewacht, sind nichts anderes als Faschistenbrut und Ungeziefer. Wir verkörpern die Stärke und das strafende Schwert der Heimat, wir müssen hart sein. Es darf keine Sentiments und keinerlei Mitleid geben.›»
    So werden jene Bürschchen erzogen, die den am Boden liegenden Ausbrecher mit Stiefeln treten und absichtlich versuchen, den Kopf zu treffen. Jene, die dem alten, gefesselten Mann das Brot mit dem Fuß vor dem Mund wegstoßen. Jene, die gleichgültig zusehen, wie der gefesselte Ausbrecher auf der splittrigen Ladefläche hin und her geschleudert wird. Das Gesicht ist voll Blut, der Schädel kracht – sie schauen gleichgültig. Denn sie sind ja das strafende Schwert der Heimat, und er, so heißt es, ist ein amerikanischer Oberst.
    Nach dem Tode Stalins, als ich bereits in ewige Verbannung entlassen war, lag ich in einer gewöhnlichen Taschkenter Klinik. Plötzlich höre ich, wie ein Patient, ein junger Usbeke, den Bettnachbarn über seinen Dienst in der «Armee» erzählt. Seine Einheit hatte die Aufgabe, Blutmenschen und Bestien zu bewachen. Er gestand, daß die Konvoimannschaften auch nicht ganz satt wurden und erbost waren, daß die Häftlingsrationen (im Bergbau, und natürlich für 120 Prozent

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