Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
begriffen wir das!
«Was heißt, ich geh nicht?» drangen die Aufseher auf ihn ein.
«Ganz einfach, ich geh nicht!» antwortete der Häftling entschlossen. «Mir gefällt’s auch hier ganz gut.»
«Wohin soll er denn gehen? … Warum soll er gehen? … Wir geben ihn nicht her! … Er bleibt da! … Haut ab!» tönte es von allen Seiten.
Da begriffen die Wölfe, daß wir nicht mehr dieselben Lämmer waren wie früher. Um jetzt einen von uns zu verhaften, mußten sie entweder List anwenden oder einen ganzen Trupp ausschicken. Einfach einen aus der Menge greifen – das ging nicht mehr.
Und wir, die wir uns vom Unrat gereinigt, von Spähern und Horchern befreit hatten, blickten um uns und erkannten, daß wir Tausende waren! Politische! daß wir uns zur Wehr setzen konnten!
Wie richtig war die Stelle gewählt, wo wir ansetzen mußten, um die Kette zu schwächen und zu sprengen – die Spitzel! die Zuträger und Verräter! Die eigenen Leute waren es, die uns niederhielten. Wie auf den alten Opferaltären war nun ihr Blut vergossen worden, um uns von dem drückenden Fluch zu befreien.
Die Revolution schritt voran. Ihre erste Brise, die schon abzuflauen schien, hatte sich in einen Orkan verwandelt, der uns die Brust schwellte!
11
Erster Versuch, die Ketten zu sprengen
Jetzt, da zwischen uns und unseren Bewachern nicht mehr ein seichter Graben verlief, sondern eine Schlucht aufgebrochen war, standen wir auf den Abhängen einander gegenüber und überlegten: Wie soll es weitergehen?
Wir «standen» ist natürlich bildlich gemeint. Wir gingen täglich zur Arbeit, mit unseren neuen Brigadieren, erschienen pünktlich zum Morgenappell, machten der Leitung keine Scherereien, es gab keine Arbeitsverweigerer, die Produktionsergebnisse waren nicht schlecht, und – die Lagerherren hätten eigentlich mit uns zufrieden sein können.
Und dennoch überlegten beide Seiten angestrengt – wie soll es weitergehen? So konnte es nicht bleiben: Uns war es zu wenig und ihnen war es zu wenig. Einer von beiden mußte losschlagen.
Doch welche Ziele gab es noch für uns? Wir konnten jetzt laut und ohne Seitenblicke reden, alles sagen, was wir wollten, alles, was sich in uns angestaut hatte. (Redefreiheit zu erleben, wenn auch nur im Lager, und erst so spät im Leben, war süß!) Aber konnten wir hoffen, diese Freiheit über die Zone hinauszutragen und dort zu verbreiten? Natürlich nicht. Welche anderen politischen Forderungen konnten wir aufstellen? Es ließen sich gar keine ausdenken! Ganz abgesehen davon, daß es zwecklos und hoffnungslos war – es ließen sich gar keine ausdenken! Wir konnten doch nicht verlangen, daß sich das ganze Land ändert, daß es die Lager abschafft: man hätte uns mit Bomben belegt.
Und ob wir einen AchtStunden-Tag fordern sollten, darüber herrschte nicht einmal Einigkeit … So sehr waren wir der Freiheit entwöhnt, daß es fast schien, als verlangte uns gar nicht mehr danach …
Wir überlegten auch, welchen Weg wir gehen sollten. Es war klar, daß wir mit bloßen Händen gegen eine moderne Armee nichts ausrichten würden, daher war unser Weg nicht der bewaffnete Aufstand, sondern der Streik.
Und das Wort «Streik» klang so schrecklich in unseren Ohren, daß wir uns eine Stütze im Hungerstreik suchten: Wenn wir die Arbeitsniederlegung mit Hungern verbinden, so würde uns das mehr moralisches Recht geben zu streiken. Zu einem Hungerstreik hatten wir doch wohl ein gewisses Recht – aber zu einem Arbeitsstreik?
Daß wir freiwillig einen völlig unnötigen Hungerstreik beschlossen, bedeutete eine freiwillige Schwächung unserer physischen Kräfte im Kampf. (Zum Glück hat, soweit mir bekannt ist, kein Lager diesen Fehler von Ekibastus wiederholt.)
Alles wurde einmal da, einmal dort, in verschiedenen Gruppen besprochen, wurde als etwas Unvermeidliches und Wünschenswertes – und gleichzeitig, weil völlig ungewohnt, als etwas Unmögliches empfunden.
Doch unsere Bewacher, die offen militärisch organisiert waren, die mehr als wir gewohnt waren zu handeln, und durch Handeln weniger riskierten als durch Nicht-Handeln – unsere Bewacher schlugen früher zu.
Und alles weitere ergab sich von selbst …
Als das neue Jahr (1952) anbrach, waren wir noch still und friedlich im gewohnten Kreis beisammen, auf den gewohnten Wagonkas, in den gewohnten Brigaden, Baracken, Zimmern und Winkeln. Doch am Sonntag, dem 6. Januar, am orthodoxen Weihnachtstag, als die Westukrainer vorhatten, das Fest würdig zu
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