Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
nichts – doch dieses Messer war für dich bestimmt, wenn du nachgabst! Es war bestimmt, deine Brust zu durchbohren, und nicht irgendwann, sondern morgen bei Tagesanbruch, und keine Tscheka und kein GB konnten dich davor retten! Es war nicht lang, aber lang genug, um dir zwischen die Rippen zu dringen. Es hatte auch keinen richtigen Griff, nur ein Isolierband, das um das stumpfe Ende des Klingenblattes gewickelt war – aber um so fester lag es in der Hand!
Und auf einmal waren die Natschalniks wie abgeschnitten von der Umwelt!
Jener Informationsapparat, auf dem allein jahrzehntelang der Ruhm der allmächtigen und allwissenden Organe beruht hatte, funktionierte nicht mehr.
Das wurde besonders akut, als die Brigadiere begannen, in die BUR zu flüchten – ins Gefängnis! Und nicht nur unbeliebte Brigadiere, auch solche Blutsaugertypen wie der Vorarbeiter Adaskin, und schließlich Spitzel, bevor sie durchschaut wurden, oder wenn sie spürten, daß sie die nächsten auf der Liste waren – plötzlich bekamen sie es mit der Angst zu tun und flüchteten !
Das war eine ganz neue und gruselig-fröhliche Zeit im Leben des Sonderlagers! War es doch so weit gekommen, daß nicht wir, sondern sie flohen – und uns von ihrem Gift befreiten! Eine Zeit, unerhört und unvorstellbar auf dieser Welt: Der Böse kann sich nicht ruhig schlafen legen! Die Vergeltung kommt nicht irgendwann im Jenseits oder wenn die Geschichte ihr Urteil gesprochen hat, die Vergeltung kommt leibhaftig im Morgengrauen und zückt das Messer über dir. Es klingt wie im Märchen: Der Zonenboden ist unter den Füßen der Anständigen weich und warm, unter den Füßen der Verräter sticht und brennt er!
Die Besitzer unserer Körper und Seelen wollten auf keinen Fall eingestehen, daß unsere Bewegung eine politische war. In drohend formulierten Befehlen (die Aufseher verlasen sie in den Baracken) wurde alles, was da begonnen hatte, zum Banditentum erklärt. So war es einfacher, verständlicher und wohl auch vertrauter. Es geschah ja noch nicht lang, daß man Banditen unter der Etikette «Politische» zu uns schickte! Na, und jetzt wurden die Politischen – das erste Mal die Politischen! – zu «Banditen». Recht unsicher wurde verkündet, daß die Banditen ausgeforscht (bislang kein einziger), und noch unsicherer, daß sie erschossen würden. Außerdem wurde an die breite Masse der Häftlinge appelliert, das Banditenunwesen zu verurteilen und zu bekämpfen ! …
Die Häftlinge hörten sich’s an und gingen schmunzelnd auseinander. Daß die Regimeoffiziere sich scheuten, Politisches als Politisches zu bezeichnen, darin spürten wir ihre Schwäche.
Die Befehle halfen nichts. Die breite Masse der Häftlinge machte keine Anstalten, statt ihrer Herren zu verurteilen und zu bekämpfen. Die nächste Maßnahme war – das ganze Lager auf Strafregime umstellen!
Die Lagerleitung wollte erreichen, daß sich unser Unmut gegen die Spitzelmorde wendet und wir die Mörder ausliefern. Doch wir waren darauf eingestellt, Opfer zu bringen – das war es uns wert! Noch etwas wurde bezweckt: Man hielt die Baracken geschlossen, damit die Mörder nicht aus einer fremden Baracke kommen könnten, innerhalb einer Baracke würde man die Täter wohl leichter finden. Doch dann geschah wieder ein Mord – und wieder wurde niemand gefunden, wieder hatte keiner etwas gesehen und keiner etwas gewußt. Und in der Produktionszone wurde einem der Schädel eingeschlagen – das war durch Baracken-Versperren schon gar nicht zu verhindern.
Das Strafregime wurde aufgehoben. Statt dessen verlegte man sich auf den Bau einer «chinesischen Mauer». Das war eine zwei Lehmziegel dicke und vier Meter hohe Mauer, die quer durch die Zone aufgeführt wurde und das Lager in zwei Teile teilen sollte. Sie war uns verhaßt, diese Mauer, es war klar, daß die Lagerleitung irgendeine Gemeinheit plante, aber wir mußten wohl oder übel bauen. Wir hatten noch nicht viel von uns befreit – erst Kopf und Mund, wir steckten noch immer bis zu den Schultern im Sumpf der Knechtschaft.
Eines Tages, nach der Arbeit, kamen zwei Aufseher in die Baracke und sagten: «Pack zusammen und komm mit.»
Der Häftling blickte sich um und sagte: «Ich geh nicht.»
Tatsächlich! Bei dieser gewöhnlichen, schlichten Abholung, oder Verhaftung, der wir uns nie widersetzt hatten, die wir immer als etwas Schicksalhaftes hingenommen hatten, gab es auch diese Möglichkeit: Ich geh nicht! Jetzt, mit unseren befreiten Köpfen
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