Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Lagern alle davon flüstern, aber niemand etwas Genaues weiß. Legendär auch deshalb, weil er nicht in Sonderlagern ausbrach, wo der Boden dafür vorbereitet war, sondern in ITL-Lagern, wo die Achtundfünfziger durch Spitzel voneinander isoliert waren, von den Kriminellen geknebelt wurden, wo ihnen sogar das Recht versagt war, Politische zu sein, wo man sich eine Gefangenenrevolte nicht einmal vorstellen konnte.
Gerüchten zufolge wurde alles von ehemaligen (noch nicht lange!) Armeeangehörigen inszeniert. Anders war es auch gar nicht möglich. Ohne sie waren die Achtundfünfziger eine Herde ohne Kraft und Glauben. Doch diese Burschen (fast keiner älter als dreißig), die Offiziere und Soldaten unserer Feldarmee gewesen waren; die zum Teil, als Kriegsgefangene gedient hatten – diese Jugend hatte, soweit sie nicht versprengt war, noch jahrelang all ihren Kampfgeist und Glauben bewahrt, sie konnte es nicht fassen, daß solche Burschen, ganze Bataillone, hier gehorsam dahinsterben sollten. Selbst Flucht war für sie nur eine armselige Halbheit, fast so etwas wie ein Versuch einzelner zu desertieren, statt gemeinsam den Kampf aufzunehmen.
Alles wurde von einer Brigade ausgedacht und begonnen. Anführer soll der einäugige Ex-Oberst Woronin (oder Woronow) gewesen sein. Es wird auch noch ein Oberleutnant der Panzertruppen Sakurenko genannt. Die Brigade tötete ihre Bewacher und befreite weitere Brigaden. Sie überfielen die Garnisonssiedlung und griffen ihr Lager von außen an – räumten die Posten auf den Wachttürmen ab und öffneten die Zone.
Mit den Waffen der Wachmannschaften ausgerüstet, eroberten die Meuterer den benachbarten Lagerpunkt. Mit vereinten Kräften beschloß man darauf, die Stadt Workuta anzugreifen! Bis dorthin waren es sechzig Kilometer. Doch soweit kam es nicht! Fallschirmjäger wurden abgesetzt und riegelten den Weg nach Workuta ab. Die Aufständischen wurden von Jagdflugzeugen im Tiefflug beschossen und zerstreut.
Es gab Prozesse, weitere Erschießungen und Verurteilungen zu 25 und 10 Jahren. (Bei der Gelegenheit wurden auch vielen, die an der Operation nicht teilgenommen hatten, sondern in der Zone geblieben waren, die Haftzeiten «aufgefrischt».)
Die militärische Hoffnungslosigkeit der Revolte ist offenkundig. Aber wer sagt, daß es hoffnungsvoller war, langsam dahinzukümmern und zu sterben?
Es gibt ein Rätsel: Was ist am schnellsten in der Welt? Die Antwort lautet: Der Gedanke!
Ja und nein. Er kann auch sehr langsam sein, der Gedanke, oh, wie langsam! Mühsam und spät begreifen die Menschen, der einzelne und die Gesellschaft, was mit ihnen geschieht, ihre wirkliche Lage.
Als Stalin die Achtundfünfziger in Sonderlager zusammentrieb, war er fast begeistert von seiner eigenen Stärke. Sie saßen ohnedies schon so sicher hinter Schloß und Riegel, wie es nur ging, doch er wollte sich selbst überlisten – wollte es noch besser machen. Er glaubte, so wirke es schrecklicher. Doch es kam umgekehrt.
Das ganze unter Stalin geschaffene Unterdrückungssystem beruhte auf der Isolierung der Unzufriedenen; sie sollten einander nicht in die Augen blicken können, sie sollten nicht zählen und feststellen können, wie viele sie waren; allen, auch den Unzufriedensten, sollte eingeredet werden, daß es keine Unzufriedenen gebe, daß es nur einzelne hoffnungslose Fälle gebe, innerlich leere Menschen, die finsteren Groll gegen das Sowjetregime nähren.
Doch in den Sonderlagern begegneten sich die Unzufriedenen zu Zigtausenden. Sie erkannten ihre Zahl. Und stellten fest, daß in ihrem Inneren keineswegs Leere war, daß sie höhere Vorstellungen vom Leben hatten als ihre Kerkermeister, als ihre Denunzianten, als jene Theoretiker, die erklärten, warum sie im Lager verkommen müßten.
Und nach und nach wird auch die ganze frühere Lagerpsychologie ungültig: Zuerst krepier du, dann ich; Gerechtigkeit erlangst du ohnedies nie; wie es war, so wird es bleiben … Warum eigentlich: erlangst es nie? … Warum eigentlich: wird bleiben? …
Ein kühner Gedanke, ein verwegener Gedanke, ein Gedanken-Sprung: Wie soll man es anstellen, daß nicht wir vor ihnen fliehen, sondern sie vor uns ?
Es genügte, daß diese Frage gestellt wurde, daß soundso viele diesen Gedanken dachten und die Frage stellten, soundso viele andere zuhörten – und die Ära der Ausbrüche im Lager war zu Ende. Es begann die Ära der Aufstände.
Dann – plötzlich ein Selbstmord. In der Regimebaracke Nr. 2 wurde ein
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