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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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friedlicher Alter, der vor der Entlassung stand, auf seiner Wagonka getötet: In einem Monat wäre seine zehnjährige Haft abgelaufen.
    Die Gefängnisstürmer flüchteten in ihre Baracken (sie mußten ja auch die Wagonkas in Ordnung bringen, um sich nicht zu verraten). Und viele andere begriffen ebenfalls, daß es besser war, in den Baracken zu bleiben. Manche dagegen stürzten aufgeregt ins Freie und wollten schauen, was los war.
    Die Aufseher hatten sich allesamt davongemacht. Aus der Stabsbaracke waren die Offiziere verschwunden, die eingeschlagenen Fenster starrten schwarz und unheimlich. Die Wachttürme schwiegen wieder. Durch die Zone irrten Neugierige und Wahrheitssuchende.
    Da wurde das Tor unserer Lagerhälfte weit aufgerissen – ein Zug Konvoisoldaten rückte in die Zone ein, sie hielten die MPs im Anschlag und feuerten blind vor sich her. So fächerten sie sich nach allen Seiten auf, und hinter ihnen schritten wutschnaubend die Aufseher, bewaffnet mit Eisenrohren, Knüppeln und was ihnen gerade in die Hände gekommen war.
    Vor dem Eingang unserer Baracke herrschte mörderisches Gedränge: Da alle möglichst rasch hineinwollten, kam überhaupt niemand rein (nicht daß die windigen Baracken Schutz vor den Kugeln geboten hätten, aber wer in der Baracke saß, war kein Meuterer mehr). Auch ich war dort beim Barackeneingang. Ich erinnere mich gut, was ich in diesen Minuten empfand: ekelige Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal, Gleichgültigkeit gegenüber Rettung und Nicht-Rettung. Verdammte Menschenquäler, warum verfolgt ihr uns? Warum sind wir so grenzenlos schuldig vor euch? Nur weil wir auf dieser unglückseligen Erde geboren wurden und ewig in euren Gefängnissen sitzen müssen? Mir war so übel von dem ganzen Katorga-Elend, daß ich nur Stumpfheit und Widerwillen verspürte. Sogar die beständige Furcht um meine Dichtung, die ich unaufgezeichnet in mir trug, war verschwunden. Angesichts des Todes, der da im Uniformmantel auf uns zukam, war ich völlig ruhig und drängte nicht zur Tür. Das war die Stimmung des Katorga-Häftlings, so weit hatte man uns gebracht.
    Die Verfolger stürmten nicht in die Baracken nach. Sie schlossen uns ein. Gefangen und geschlagen wurden jene, die sich nicht rechtzeitig in eine Baracke flüchten konnten.
    Der Arbeits-und Hungerstreik, der nicht vorbereitet, nicht einmal richtig durchdacht war, begann jetzt improvisiert, ohne Leitung, ohne Signalsystem.
    Später, in anderen Lagern, stellte man es natürlich klüger an: besetzte das Lebensmittelmagazin und weigerte sich zu arbeiten. Wie wir es machten, war es nicht sehr klug, aber eindrucksvoll: Dreitausend Mann wiesen geschlossen Brot und Arbeit zurück.
    Am Morgen ließ keine einzige Brigade Brot holen. Keine einzige Brigade ging in die Kantine, wo Suppe und Grütze bereitstanden. Die Aufseher begriffen nicht, was los war. Ein zweites, ein drittes, ein viertes Mal kamen sie uns holen, dann drohten sie mit Gewalt, schließlich wurden sie sanft und luden uns ein, wenigstens in die Kantine Brot holen zu kommen, von Ausrücken war keine Rede mehr.
    Doch niemand rührte sich. Alle lagen angezogen auf den Wagonkas und schwiegen. Nur wir Brigadiere (ich war in jenem heißen Jahr Brigadier) mußten etwas antworten, denn alles, was die Aufseher sagten, galt uns. Wir brummten, ohne den Kopf zu heben:
    «Nichts zu machen, Genosse Natschalnik …»
    Dieser schweigsame, einmütige Widerstand gegen die Macht, gegen eine Macht, die nie und niemandem verzieh, dieses hartnäckige, anhaltende Nichtgehorchen wirkte schrecklicher als Laufen und Schreien im Kugelregen.
    Schließlich gab man das Zureden auf und sperrte die Baracken zu.
    In den folgenden Tagen verließen nur die Männer vom Stubendienst die Baracken: um die Latrinenkübel zu entleeren, Trinkwasser und Kohle zu holen. Nur denen, die im Krankenrevier lagen, war von der Gemeinschaft erlaubt zu essen.
    Und die Lagerherren sahen uns nicht mehr und erfuhren nicht, was in uns vorging. Eine tiefe Kluft klaffte zwischen den Aufsehern und den Sklaven!
    Diese drei Tage und Nächte wird kein Beteiligter jemals vergessen. Wir sahen nicht die Kameraden in den anderen Baracken, wir sahen nicht die unbestatteten Toten, die dort lagen. Aber ein stählernes Band verklammerte uns über die verödeten Lagergassen hinweg.
    Es waren nicht satte Menschen mit Fettpolstern unter der Haut, die in den Hungerstreik traten, sondern knochige, ausgemergelte, die jahrelang von Hunger getrieben wurden, die

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