Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
begehen, Kutja zu kochen (ihre traditionelle Weihnachtsspeise), bis zum Aufgang des Abendsterns zu fasten und dann Weihnachtslieder zu singen – wurde nach der Morgenkontrolle unsere Baracke versperrt und nicht mehr geöffnet.
Eine Umsiedlung also! Die Öffnung in der «chinesischen Mauer» ist bewacht. Morgen wird sie zugemauert. Wir werden durchs Lagertor geführt und zu Hunderten, mit Bündeln und Matratzen, wie Ausgebombte, rund ums Lager und durchs zweite Tor in die andere Zone getrieben. Und von dort kommen sie uns ebenfalls scharenweise entgegen.
In der einen Hälfte (zweiter Lagerpunkt) bleiben nur die waschechten Ukrainer, ungefähr zweitausend Mann. In der anderen Hälfte, wo wir gelandet sind und wo der erste Lagerpunkt sein wird, sind ungefähr dreitausend Vertreter anderer Nationen beisammen – Russen, Esten, Litauer, Letten, Tataren, Kaukasier, Georgier, Armenier, Juden, Polen, Moldauer, Deutsche und sonstiges diverses Zufallspublikum aus Asien und Osteuropa.
Im ukrainischen Lagerpunkt ist das Krankenrevier, die Kantine und der Klub. Wir haben dafür – die BUR. Die Ukrainer, die Bandera-Leute, also gerade die gefährlichsten Revoltierer, sind von der BUR isoliert. Was hat das zu bedeuten?
Bald erfahren wir es. Im Lager wird bekannt, aus verläßlicher Quelle (Häftlinge, die in der BUR Suppe austragen), daß die Spitzel in ihrer «Rumpelkammer» unverschämt werden: Man steckt verdächtige Häftlinge zu ihnen (zwei, drei hat man geschnappt), und die Spitzel foltern sie in ihrer Zelle, würgen sie und schlagen sie, versuchen aus ihnen herauszupressen: Wer sind die Messerleute?? Jetzt erst wird die tiefere Absicht klar – sie foltern! Nicht die Hunde selbst foltern (haben wahrscheinlich keine Befugnis dazu, können Schwierigkeiten bekommen), sie überlassen es den Spitzeln: Forscht eure Mörder selbst aus!
Doch wie viel kluge Historiker es auch gegeben hat, und wie viele scharfsinnige Bücher sie auch geschrieben haben – diesen geheimnisvollen Funkenschlag in den Menschen, dieses geheimnisvolle Keimen gesellschaftlicher Explosionen vorauszusagen haben sie nicht gelernt, ja, sie können es nicht einmal nachträglich erklären.
Manchmal fährt man mit einem lodernden Wergballen zwischen die Scheite – und es will und will nicht brennen. Dann wieder fliegt ein einsamer Funke hoch oben aus dem Schornstein – und legt ein ganzes Dorf in Asche.
Unsere dreitausend hatten nichts vorbereitet, waren auf nichts vorbereitet, sie kamen eines Tages von der Arbeit – und plötzlich begann es in der Baracke neben der BUR: Die Seki zerlegten ihre Wagonkas, liefen mit Latten und Kanthölzern zur BUR (diese Seite lag schon im Halbdunkel) und begannen die massive Bretterwand rund um das Lagergefängnis zu bearbeiten. Sie hatten wohl weder Beile noch Brechstangen …
Die Schläge klangen, als würde eine Brigade Zimmerleute am Werk sein. Die ersten Bretter gaben nach, wurden von kräftigen Händen zurückgebogen – und das Kreischen von Zwölfzentimeter-Nägeln tönte über die ganze Zone.
Schließlich wurden die Aufseher unruhig, sie steckten ihre Schnauzen in den dunklen Winkel hinter der BUR, wo die Volkswut kochte, verbrannten sich jedoch und zogen ab, Richtung Stabsbaracke. Einige Häftlinge setzten ihnen mit Latten nach. Um die Musik komplett zu machen, begannen andere mit Steinen und Stöcken die Fenster der Stabsbaracke einzuschlagen. Mit hellem, lustigem und zugleich drohendem Klang zersprangen die Stabsfenster!
Dabei war die Absicht der Burschen keineswegs, einen Aufstand anzuzetteln, nicht einmal, das Gefängnis zu stürmen, das ist nicht so leicht. Die Absicht war einfach: Benzin von außen in die Spitzelstelle gießen und anzünden – wir werden’s euch zeigen! Doch da hämmerten von den Wachttürmen die Maschinengewehre los, und die Spitzel auszuräuchern gelang nicht mehr.
Die davongelaufenen Aufseher und der Regimechef Matschechowski hatten die Abteilung verständigt. Und die Abteilung gab den Posten auf den Ecktürmen telefonisch Befehl, das Feuer zu eröffnen – auf dreitausend unbewaffnete Menschen, die von dem Vorgefallenen nichts wußten. (Unsere Brigade, zum Beispiel, war gerade in der Kantine, wie hörten die Schießerei, ohne etwas zu begreifen.)
In der Dunkelheit feuerten die MG-Posten aufs Geratewohl in die Zone. Sie schossen zwar nicht lange, der Großteil der Kugeln ging vielleicht drüber hinweg, aber es gab auch genug, die trafen. In der Neuner-Baracke wurde ein
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