Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Erhängter gefunden. (Ich schildere alle Stadien der Entwicklung zunächst am Beispiel Ekibastus. Aber diese Stadien waren in allen Sonderlagern gleich !) Der Lagerleitung machte das nicht viel Kummer, man hob den Mann aus der Schlinge und schaffte ihn auf den Müllplatz.
Doch in der Brigade ging das Gerede: Der Mann war ein Spitzel. Er hat sich nicht selbst erhängt. Er wurde erhängt.
Eine Mahnung.
«Weg mit den Spitzeln!» – Ja, das ist es! Den Spitzeln das Messer in die Brust bohren! Messer schmieden und auf Spitzeljagd gehen! – Das ist es!
Jetzt, da ich dieses Kapitel schreibe, türmen sich auf den Regalen über mir humanitätsschwere Bücher und blinken mir mit ihren mattschimmernden, gealterten Einbänden vorwurfsvoll zu, wie Sterne durch Wolkenstreifen: Man darf nichts in der Welt durch Gewalt zu erreichen suchen! Wer zum Schwert, zum Messer, zum Gewehr greift, wird nur zu rasch seinen Henkern und Bedrückern gleich. Und der Gewalt wird kein Ende sein …
Wird kein Ende sein … Hier am Schreibtisch, im warmen, sauberen Arbeitszimmer, bin ich völlig einverstanden.
Doch wer grundlos zu fünfundzwanzig Jahren Lager verdammt wird, wer seinen Namen verliert und vier Nummern angeheftet bekommt, die Hände immer auf dem Rücken halten muß, jeden Morgen und Abend gefilzt wird, täglich bis zur Erschöpfung robotet, zu Verhören in die BUR geschleift wird, für immer in diese Erde gestampft wird – für den hören sich alle Reden der großen Menschenfreunde wie das Geschwätz satter Spießer an.
Jetzt folgte ein Fememord nach dem anderen, häufiger als seinerzeit die Fluchtversuche. Die Täter handelten entschlossen und anonym: Sie gingen nicht mit blutbeflecktem Messer zum Aufseher, sie brachten sich und die Waffen in Sicherheit – für die nächste Tat. Die bevorzugte Zeit war fünf Uhr morgens, wenn nur vereinzelt Aufseher unterwegs waren, um die Baracken zu öffnen, und die Häftlinge fast alle noch schliefen. Die maskierten Rächer betraten leise den bezeichneten Raum, schlichen zur bezeichneten Wagonka und stießen dem Verräter das Messer in den Leib. Für den Mann gab es kein Entrinnen. Er brüllte wild auf, wenn er schon wach war, oder er wurde sogar im Schlaf getötet. Die Täter vergewisserten sich, ob er tot war, und verließen geschäftig den Raum.
Sie trugen Masken, ihre Nummern waren abgetrennt oder verdeckt. Aber selbst wenn sie von den Nachbarn des Opfers an der Gestalt erkannt wurden, so hüteten sich diese, etwas zu melden, und blieben auch bei Verhören und gegenüber Drohungen des Gevatters standhaft: Nein, nein, ich weiß nichts, ich habe nichts gesehen. Und das nicht nur in der alten Erkenntnis, die sich alle Unterdrückten zu eigen gemacht haben: «Wer nichts weiß, am Ofen sitzt, wer viel weiß, an der Leine läuft.» Das war auch Selbsterhaltung! Denn wer die Täter nannte, wurde am nächsten Morgen getötet, und die Gunst des Einsatzbevollmächtigten nützte ihm gar nichts.
Und diese Morde wurden, wenn auch noch keine zehn geschehen waren, bereits zur Norm, zur Alltagserscheinung. Am Morgen beim Waschen oder beim Abholen der Ration fragten die Häftlinge einander: Ist heute jemand umgebracht worden? In diesem grausigen Sport vernahm ihr Ohr den unterirdischen Gongschlag der Gerechtigkeit.
Es war vielleicht ein Dutzend Spitzel getötet worden, bei einer Lagerbevölkerung von fünftausend – doch mit jedem Messerstich löste sich mehr und mehr der Druck der Polypenarme, die uns umklammert hielten. Eine wunderbare neue Luft wehte im Lager! Äußerlich noch immer Häftlinge, noch immer von Stacheldraht umgeben, waren wir in Wirklichkeit frei geworden – frei deshalb, weil wir das erste Mal in unserem Leben, soweit wir uns zurückerinnern konnten, offen und laut alles sagten, was wir dachten! Wer das nicht selbst erlebt hat, diesen Übergang, kann es sich nicht vorstellen!
Zwei unsichtbare Waagschalen schwebten über dem Appellplatz. Auf der einen türmten sich alle die bekannten Schreckensbilder: Untersuchungszimmer, Faustschläge, Stockhiebe, Schlafverbot, Stehboxen, kalte feuchte Karzer, Ratten, Wanzen, Tribunale, zweite, dritte Verurteilung. Doch das alles war kein kurzer Stromstoß, sondern eine langsam mahlende Knochenmühle, die nicht alle gleichzeitig verschlingen und an einem Tag verarbeiten konnte. Und auch danach hörten die Menschen nicht auf zu sein – alle, die hier waren, hatten diese Mühle passiert.
Und auf der anderen Waagschale lag ein Messer, sonst
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