Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
mit Mühe ein gewisses physisches Gleichgewicht erreicht hatten und schon beim Ausbleiben einer Hundert-Gramm-Ration Beschwerden bekamen. Und die Kümmerlinge hungerten gemeinsam mit den anderen, obwohl drei Tage Hungern für sie den Tod bedeuten konnten. Das Essen, das wir zurückwiesen, das wir immer als Bettlerkost betrachtet hatten, jetzt erschien es uns im unruhigen, hungergequälten Schlaf als Meer der Sättigung.
Die Menschen, die in den Hungerstreik traten, hatten jahrzehntelang nur das Raubtiergesetz gekannt: «Zuerst krepier du, dann ich!» Doch nun hatten sie sich verwandelt, hatten sich aus ihrem stinkenden Sumpf befreit und waren bereit, lieber heute gemeinsam zu sterben, als noch einen Tag so zu leben.
In den Barackenzimmern herrschte eine fast feierliche Opferbereitschaft füreinander. Alle, die irgendwelche Essenreste hatten, vor allem die Paketempfänger, trugen sie an einer Stelle zusammen, auf einem ausgebreiteten Tuch, dann wurde ein Teil der Nahrung durch gemeinsamen Beschluß verteilt, der Rest für morgen aufgehoben.
Was unsere Herren machen würden, das wußte niemand vorauszusagen. Wir waren sogar darauf gefaßt, daß wieder MG-Feuer von den Wachttürmen einsetzt. Am wenigsten erwarteten wir Konzessionen. Kein einziges Mal in unserem Leben hatten wir ihnen etwas abgerungen – und unser Streik war von bitterer Hoffnungslosigkeit überschattet.
Aber in dieser Hoffnungslosigkeit lag auch eine gewisse Genugtuung. Wir hatten einen nutzlosen, verzweifelten Schritt getan, es wird nicht gut enden – und gut so. Unsere Mägen hungerten, unsere Herzen krampften sich zusammen – aber ein anderes, höheres Bedürfnis wurde gestillt. In diesen langen Hungertagen und Hungernächten grübelten dreitausend Menschen über ihre dreitausend Haftstrafen, über ihre dreitausend Familien, über das, was mit jedem gewesen war und sein würde, und wenn auch so viele Menschen verschieden empfinden mußten, manche ihren Entschluß bereuten, manche verzweifelten, so war doch die allgemeine Einstellung: Recht so! Zum Trotz! Es endet schlecht – und gut so!
Auch ein unergründetes Gesetz: Wie kommt es zu einem solchen, jeder Vernunft widersprechenden Gefühlsaufschwung einer tausendköpfigen Masse? Ich habe diesen Aufschwung an mir selbst deutlich verspürt. Es war nur noch ein Jahr bis zu meiner Entlassung. Ich hätte eigentlich Unbehagen spüren müssen, daß ich mich auf diesen Stunk eingelassen hatte, der wahrscheinlich eine zweite Haftstrafe einbringen würde. Doch ich bedauerte es nicht im geringsten. Hol’s der Teufel, sollen sie mir noch was draufbrummen!
Am nächsten Tag sahen wir durchs Fenster, wie eine Gruppe Offiziere von Baracke zu Baracke ging. Bald darauf wurde die Tür aufgesperrt, mehrere Aufseher gingen durch den Gang, schauten in die Zimmer und riefen die Brigadiere (in einem neuen Ton, fast freundlich, wie man Menschen anspricht): «Brigadiere! Raustreten!»
Unter den Häftlingen begann eine Diskussion. Es waren nicht die Brigadiere, die entschieden, sondern die Brigaden. Die Leute gingen von Zimmer zu Zimmer und berieten sich.
Schließlich wurde irgendwo unsichtbar eine Entscheidung getroffen. Wir Brigadiere, sechs, sieben an der Zahl, gingen in den Flur, wo die Natschalniks geduldig auf uns warteten.
Dafür drängten links und rechts des Mittelflurs die Seki heran, hinter dem Rücken der Vorderen riefen sie laut, was ihnen einfiel: unsere Forderungen und unsere Antworten.
Die Offiziere mit den blauen Schulterstücken (es waren auch unbekannte Gesichter darunter, die wir noch nie gesehen hatten), taten, als sähen sie die anderen nicht, und sprachen nur mit den Brigadieren. Sie waren im Ton zurückhaltend, schüchterten uns nicht grob ein, ließen sich aber auch nicht zu einem Gespräch auf gleichem Fuß herab. Sie sagten, daß es in unserem Interesse wäre, die Arbeitsniederlegung und den Hungerstreik zu beenden. In diesem Fall würden wir nicht nur die heutige Ration, sondern – unerhört in der Geschichte des GULAG! – auch die gestrige bekommen. (Wie gewohnt waren sie es, daß man Hungrige jederzeit kaufen kann!)
Aus den Gängen tönte es:
Die Schuldigen vor Gericht stellen!
Die Baracken offen lassen!
Weg mit den Nummern!
Die Lagerherren gingen, die Baracke wurde wieder versperrt.
Obwohl der Hunger schon an den Kräften zehrte, die Köpfe dumpf und schwer waren, sprach niemand in der Baracke vom Nachgeben. Keine einzige Stimme verriet Bedauern.
Und wir wanden uns eine zweite
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