Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Nacht und einen dritten Tag in Hungerkrämpfen.
Doch als die Tschekisten am dritten Morgen wiederkamen, diesmal noch zahlreicher, und wir wieder hinaus in den Flur gingen und uns aufstellten, mit denselben lustlosen, undurchdringlichen Gesichtern – da lautete der gemeinsame Beschluß: nicht nachgeben! In unserem Kampf begann schon ein Trägheitsmoment zu wirken.
Und das Treffen mit den Herren gab uns nur neue Kraft. Der neuangekommene Beamte sagte:
«Die Verwaltung des Pestschanyj-Lagers bittet die Häftlinge, Nahrung zu sich zu nehmen. Die Verwaltung wird alle Beschwerden entgegennehmen. Sie wird die Ursachen des Konflikts zwischen der Lagerleitung und den Häftlingen klären und beseitigen.»
Haben wir richtig gehört? Wir werden gebeten, wieder Nahrung zu uns zu nehmen – und von der Arbeit nicht einmal ein Wort! Wir haben das Gefängnis attackiert, Fensterscheiben und Lampen zerschlagen, Aufseher mit Messern bedroht, und das alles ist auf einmal kein Aufruhr, sondern ein Konflikt zwischen ! – zwischen gleichrangigen Gegnern, der Lagerleitung und den Häftlingen!
Wir hatten nur zwei Tage und zwei Nächte zusammengehalten – und schon war die Sprache unserer Seelenbesitzer völlig anders! Noch nie in unserem Leben, weder als Häftlinge noch als freie und Gewerkschaftsmitglieder, hatten wir von unseren Herren derart schmeichelnde Reden gehört!
Doch wir schwiegen und gingen zurück in unsere Zimmer, denn hier konnte niemand entscheiden. Und eine Entscheidung versprechen konnte auch niemand.
Und die Baracke wurde zugesperrt.
Von außen mußte sie den Lagerherren stumm und unnachgiebig erscheinen. Doch drinnen begannen stürmische Debatten. Zu groß war die Versuchung! Der sanfte Ton wirkte auf das anspruchslose Häftlingsgemüt mehr als alle Drohungen. Es wurden Stimmen laut, die von Nachgeben sprachen. Was würden wir denn wirklich noch erreichen können?
Wir waren erschöpft! Wir wollten essen! Jenes geheimnisvolle Gesetz, das unser Fühlen geeint und auf mächtigen Schwingen emporgetragen hatte, begann auf einmal unsicher zu flattern und an Höhe zu verlieren.
Doch da öffneten sich Münder, die jahrzehntelang geschwiegen hatten und weiter geschwiegen hätten bis zum Tod.
Jetzt nachgeben? Das heißt, auf ein Ehrenwort hin kapitulieren. Wer gibt uns dieses Ehrenwort? Kerkermeister und Lagerbullen. Haben sie jemals, seit diese Kerker und Lager stehen, auch nur ein einziges Mal ihr Wort gehalten?!
Der trübe Stoff aus Leid, Kränkung und Verhöhnung, der sich längst gesetzt hatte, wurde aufgewirbelt. Das erste Mal waren wir auf dem richtigen Weg – und schon nachgeben? Das erste Mal fühlten wir uns als Menschen – und sollten schon kapitulieren? Ein trotzig-keckes Lüftchen umspielte uns und ließ uns leicht erschauern: Weitermachen! Weitermachen! Sie werden noch anders mit uns reden! Sie werden nachgeben! (Das blieb unklar. So ist das Schicksal der Unterdrückten: Sie müssen zwangsläufig glauben und nachgeben …)
Und der Adler, der Adler unserer zweihundert verklammerten Herzen schlug wieder kraftvoll mit seinen Flügeln! Er schwang sich wieder empor!
Wir legten uns nieder, um unsere Kräfte zu schonen, wir vermieden überflüssige Bewegung und überflüssiges Reden. Wir waren genug damit beschäftigt – zu denken.
Und plötzlich am Spätnachmittag des dritten Tages, als im aufklarenden Westen die Abendsonne durchbrach – da riefen die Beobachter mit bitterer Enttäuschung:
«Die Neuner-Baracke! … Die Neuner hat aufgegeben! … Die Neuner geht in die Kantine!»
Wir sprangen alle auf. Die Seki aus den gegenüberliegenden Zimmern kamen gelaufen. Auf den unteren und oberen Wagonka-Reihen kniend, an die Fenstergitter gedrängt, über die Schultern der Vorderen blickten wir starr auf dieses traurige Schauspiel.
Zweihundertfünfzig armselige Gestalten, die gegen die untergehende Sonne noch schwärzer wirkten, als sie schon waren, zogen gebeugt und gedemütigt in langer Prozession quer durch die Zone. Es war eine auseinandergezogene, nicht enden wollende Kette, die sich zögernd an der Sonnenscheibe vorbeibewegte, als würden die hinteren nur ungern den ersten folgen. Die Schwächsten wurden gestützt oder an der Hand geführt, und ihr unsicherer Gang ließ den Eindruck entstehen, daß zahlreiche Blinde einzeln geführt werden. Viele trugen kleine Kessel und Näpfe, in der Erwartung eines Abendessens, das zu üppig sein würde, um in den geschrumpften Mägen Platz zu finden, und dieses
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