Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Bedrohung empfunden hatten, verhießen ihnen jetzt Rettung: Je mehr Unruhen, desto besser, dann müssen nämlich Maßnahmen ergriffen werden. Und dann gibt es keine Dienstposten-und Gehaltskürzungen.
Innerhalb eines knappen Jahres hatten Konvoisoldaten in Kengir mehrere Male auf Unschuldige geschossen. Die Vorfälle häuften sich, und das konnte nicht unbeabsichtigt sein.
Es wurde jenes Mädchen Lyda aus der Mörtelmischanlage erschossen, als es auf der Vorzone Strümpfe zum Trocknen aufhängte.
Es wurde ein alter Chinese angeschossen – seinen Namen wußte niemand, er sprach kaum Russisch, aber alle kannten seine Gestalt, den watschelnden Gang, die Pfeife zwischen den Zähnen, das waldschrathafte Gesicht. Ein Wachtposten rief ihn zum Turm, warf ihm ein Päckchen Machorka zu, knapp neben der Vorzone, und als der Chinese danach griff – schoß er und verletzte ihn.
Dann der bekannte Fall, als Konvoisoldaten mit Dumdum-Geschossen in eine Kolonne feuerten, die aus der Aufbereitungsanlage kam. Es hatte damals sechzehn Verletzte gegeben.
Doch das nahmen die Seki nicht mehr schweigend hin – es wiederholte sich die Geschichte von Ekibastus: Der Lagerpunkt Nr. 3 rückte drei Tage lang nicht zur Arbeit aus (nahm jedoch Nahrung zu sich) und forderte Bestrafung der Schuldigen.
Es traf eine Kommission ein und versicherte, daß die Schuldigen vor Gericht gestellt würden. Die Häftlinge nahmen die Arbeit wieder auf.
Doch im Februar 1954 wurde im Holzbearbeitungswerk wieder ein Häftling erschossen – der «Evangelist», wie man in ganz Kengir sagte (sein Name war Alexander Syssojew, wenn ich mich nicht irre). Dieser Mann hatte von seiner zehnjährigen Haft neun Jahre und neun Monate abgesessen. Seine Arbeit bestand darin, Schweißelektroden zu ummanteln, er machte das in einer Hütte, die nahe der Vorzone stand. Als er einmal neben der Hütte austreten wollte, wurde er vom Wachtturm aus erschossen. Sogleich kamen aus der Zonenwache Soldaten gelaufen und schleiften den Toten näher zur Vorzone, damit es aussah, als hätte er den Verbotsbereich betreten. Die Seki konnten sich nicht mehr beherrschen, sie ergriffen Spitzhacken und Spaten und vertrieben die Mörder.
In der Werkszone herrschte Erregung. Die Häftlinge wollten den Ermordeten auf den Schultern in den Lagerpunkt tragen. Die Lageroffiziere verboten es. «Weswegen habt ihr ihn umgebracht?» tönte es ihnen entgegen. Die Herren warren um eine Erklärung nicht verlegen: Der Getötete ist selbst schuld – er hat Steine gegen den Wachtturm geworfen. (Hätten sie wenigstens das Personalblatt des Getöteten durchgelesen! – daß er drei Monate vor der Entlassung stand und Evangelist war …)
Am Abend wurde folgendes gemacht. Nach dem Essen, als alle Häftlinge in den Zimmern waren, drehte plötzlich jemand das Licht aus, und eine Stimme sagte von der Tür her: «Brüder! Wie lange wollen wir noch bauen und dafür Kugeln empfangen? Morgen wird nicht gearbeitet!» So geschah es der Reihe nach in allen Zimmern, in allen Baracken.
Dem Lagerpunkt Nr. 2 ließ man über die Mauer eine Botschaft zukommen. Eine gewisse Erfahrung hatte man schon, das Ganze war schon oft überlegt worden; so gelang es auch dort, rasch alle zu verständigen. Im Lagerpunkt Nr. 2, der national gemischt war, überwogen die Zehner -Häftlinge, viele hatten es nicht mehr weit bis zur Entlassung – trotzdem schlossen sie sich an.
Am Morgen rückten die beiden Männerzonen (Lagerpunkt Nr. 2 und Nr. 3) nicht zur Arbeit aus.
Diese Taktik – streiken und dabei nicht auf staatliche Ration und Suppe verzichten – wurde von den Häftlingen immer mehr, von ihren Herren immer weniger begriffen.
Zwei Tage hielten sie sich. Aber der Streik wurde niedergeworfen.
Und so versickerte auch die zweite Protestbewegung in Kengir, bevor sie noch voll ausgereift war.
Doch jetzt überspannten die Lagerherren den Bogen. Sie setzten ihre Hauptwaffe gegen die Achtundfünfziger ein – die Kriminellen! (Warum sich die Hände und Epauletten beschmutzen, wenn es SozialNahe gibt?)
Kurz vor den Maifeiertagen brachten sie eine Gruppe von sechshundertfünfzig Mann, in erster Linie Kriminelle, aber auch Bytowiki (darunter viele Frischlinge), nach Kengir und quartierten sie in der Rebellenzone, dem Lagerpunkt Nr. 3, ein. Den Achtundfünfzigern erklärten sie schadenfroh: «Wir bekommen ein gesundes Kontingent ! Da wird euch das Aufmucken schon vergehen.» Und die frisch angekommenen Unterweltler wurden aufgefordert:
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