Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
«Ihr könnt bei uns Ordnung schaffen!»
Die Lagerherren wußten sehr gut, was notwendig ist, um Ordnung zu schaffen: stehlen und betrügen, auf Kosten der anderen leben, und damit Spaltung und Mißtrauen säen.
Doch da ist er wieder, der unvorhersagbare Lauf der menschlichen Gefühle und sozialen Bewegungen! Als die Lagerherren dem Kengirer Lagerpunkt Nr. 3 eine Pferdedosis dieses bewährten Leichengiftes injizierten, ahnten sie nicht, daß sie statt eines befriedeten Lagers die größte Revolte in der Geschichte des Archipels bekommen würden!
Die Ereignisse entwickelten sich wie zwangsläufig. Die Politischen konnten nicht anders, als die Kriminellen vor die Alternative «Krieg oder Bündnis» stellen. Die Kriminellen konnten nicht anders, als das Bündnis annehmen. Das einmal beschlossene Bündnis konnte nicht ruhen, sonst wäre es zerfallen, und das hätte zum internen Krieg geführt.
Das nächstliegende Ziel war – den Wirtschaftshof besetzen, wo sich auch die Lebensmittellager befanden. Die Operation wurde an einem arbeitsfreien Sonntag, dem 16. Mai 1954, gestartet …
Diese Aktionen, die in keiner Weise getarnt wurden, beanspruchten eine gewisse Zeit. In dieser Zeit hatten sich die Aufseher organisiert und Instruktionen bekommen …
Der Wirtschaftshof war jetzt fest in den Händen der Beljajew-Leute, es wurden Maschinengewehre in Stellung gebracht. Nachdem die Kriminellen ihre Ouvertüre gespielt hatten, traten jetzt die Politischen auf den Plan: Der 2. Lagerpunkt errichtete vor dem Tor des Wirtschaftshofs eine Barrikade. Der 2. und 3. Lagerpunkt wurden durch eine Öffnung in der Mauer verbunden, sie wurden von keinem Aufseher mehr betreten, und die Macht des MWD war dort zu Ende.
Was für Empfindungen können das sein, die diesen achttausend Menschen die Brust sprengen, Menschen, die immer und eben noch Sklaven waren, voneinander getrennt – und sich jetzt vereinigt und befreit haben, wenn auch nicht wirklich, wenn auch nur in diesem Mauerviereck, unter den Augen dieser vervierfachten Wachen?! Menschliche Brudergemeinschaft, so oft unterdrückte, endlich siegreiche!
In der Kantine tauchen Plakate auf: «Bewaffne dich, so gut du kannst, und greif die Wachen als erster an!» Auf Zeitungspapier (anderes Papier gibt es nicht) haben einige besonders Hitzige bereits ihre Parolen gemalt, mit schwarzen und farbigen Buchstaben: «Jungs, haut die Tschekisten!», «Tod den Spitzeln, den Tschekisten-Lakaien!» An allen Ecken und Enden finden Versammlungen statt, treten Redner auf! Und jeder macht seine eigenen Vorschläge! Denk nach – du darfst denken –, überlege, für wen bist du? Welche Forderungen sollen wir aufstellen? Was wollen wir? Daß Beljajew vor Gericht kommt! – das ist klar. Daß die Mörder vor Gericht kommen! – das ist klar. Und weiter? … Daß die Baracken offen bleiben, daß die Nummern abgeschafft werden! – und weiter? …
Und weiter – kommt das Schrecklichste: Wofür haben wir das begonnen, und was wollen wir? Wir wollen natürlich Freiheit, nichts als Freiheit! Doch wer gibt sie uns? Jene Gerichte, die uns verurteilt haben – in Moskau? Solange wir nur mit dem Step-Lag und Karaganda unzufrieden sind, reden sie noch mit uns. Doch wenn wir sagen, daß wir mit Moskau unzufrieden sind, begraben sie uns hier in der Steppe.
Aber – was wollen wir dann? Die Mauern niederreißen? Hinauslaufen und uns in der Wüste zerstreuen?
Stunden der Freiheit! Die Last der Ketten ist von den Armen und Schultern gesunken! Nein, wir bereuen es nicht! Dieser Tag war es wert!
Montagabend kommt eine Abordnung von Natschalniks iri das aufgewühlte Lager. Sie geben sich durchaus wohlwollend, keine Raubtierblicke, keine Maschinenpistolen – sie sind ja auch keine Handlanger des blutrünstigen Berija. Wir erfahren, daß Generäle aus Moskau gekommen sind – Botschkow aus der Hauptlagerverwaltung und der stellvertretende Generalstaatsanwalt Wawilow. (Sie haben auch unter Berija gedient, aber wozu alte Wunden aufreißen?) Sie meinen, daß unsere Forderungen durchaus gerecht sind! (Wir sind selbst überrascht: Gerecht? Wir sind also keine Meuterer? Nein, nein, durchaus gerecht !) «Was die Erschießung der Häftlinge betrifft, so werden die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden!» – «Und warum sind die Frauen verprügelt worden?» – «Frauen verprügelt?» wundert sich die Delegation. «Das kann nicht sein.» Anja Michalewitsch führt ihnen die mißhandelten Frauen vor. Die Kommission ist
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