Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
armselige Lagergeschirr, das sie vor sich hielten wie Bettler Almosenschalen, war besonders schmerzlich anzusehen, war besonders entwürdigend und erschütternd.
Ich spürte, daß ich weinte. Ich wischte über die Augen, schielte nach den anderen und sah: Auch sie hatten Tränen in den Augen.
Die Haltung der Neuner-Baracke war entscheidend. Es war die Baracke, wo seit Dienstagabend die Toten lagen.
Sie gingen in die Kantine, und das hieß soviel, daß sie beschlossen hatten, für Grütze und Brotration den Mördern zu vergeben.
Wir gingen schweigend von den Fenstern weg.
Und da erkannte ich, was Polenstolz bedeutet, welcher Geist ihre Aufstände beseelte. Jener polnische Ingenieur Jurij Wengerski war jetzt in unserer Brigade. Er saß das letzte seiner zehn Jahre ab. Auch als er Vorarbeiter war, hörte man von ihm nie ein scharfes Wort. Er war immer ruhig, höflich und sanft.
Doch jetzt verzerrte sich sein Gesicht. Mit einer jähen Kopfbewegung, voll Wut, Verachtung und Schmerz, wandte er sich von der Almosenprozession ab, ballte die Fäuste und rief mit zornheller Stimme:
«Brigadier! Sie brauchen mich nicht zu wecken! Ich gehe nicht zum Abendessen!»
Er kletterte auf seine Wagonka, drehte sich zur Wand und – blieb liegen. In der Nacht gingen wir essen – er blieb liegen! Er bekam keine Pakete, war alleinstehend, immer hungrig – doch er blieb liegen. Die Vision einer Schüssel voll dampfender Grütze konnte für ihn nicht die Vision der immateriellen Freiheit verdrängen!
Wären wir alle so stolz und stark – welcher Tyrann könnte sich halten?
Aber es war nicht umsonst, was geschehen ist, unsere Opfer waren nicht sinnlos. Die Lagerluft läßt sich nicht mehr in die drückende Atmosphäre zurückverwandeln, die einmal herrschte. Die Niedertracht ist zwar restauriert, aber sehr unstabil. Über Politik wird in den Baracken frei gesprochen. Kein Anordner und kein Brigadier wagen es mehr, einen Häftling zu treten oder zu schlagen. Denn jetzt wissen alle, wie leicht es ist, Messer zu machen, und wie leicht, sie zwischen die Rippen zu stoßen.
Unser Inselchen war erschüttert – und hatte sich vom Archipel gelöst …
Das spürten sie zwar in Ekibastus, doch kaum noch in Karaganda, und sicher nicht in Moskau. An verschiedenen Stellen hatte der Zerfall des Sonderlager-Systems begonnen – doch der große Vater und Lehrer war ahnungslos, ihm wurde natürlich nichts gemeldet.
Jetzt galt es, die Kengirer in die Lehre zu nehmen.
Es gab Unruhen auch außerhalb der Sonderlager, doch alle Blutflecken in unserer Vergangenheit sind so sorgfältig überschmiert oder weggewaschen, daß es mir derzeit unmöglich ist, auch nur eine dürftige Aufzählung der Lagerunruhen zu geben.
Es ist offenkundig, daß das Stalinsche Lagersystem, vor allem das Sonderlager-System, am Anfang der fünfziger Jahre vor einer Krise stand. Die Archipel-Bewohner begannen noch zu Lebzeiten des Allmächtigen an ihren Ketten zu rütteln.
Man kann nicht sagen, wie es sich unter ihm weiterentwickelt hätte. Doch plötzlich – anderen Gesetzen folgend als denen der Wirtschaft und Gesellschaft – blieb das zähe, alte, schmutzige Blut in den Adern der untersetzten, narbengesichtigen Persönlichkeit stehen.
Doch der Tod des Tyrannen war nicht ohne Folgen geblieben. Irgendwo im verborgenen verschob sich etwas und bewegte sich etwas – und plötzlich stürzte mit blechernem Getöse, wie ein leerer Eimer, noch eine Persönlichkeit kopfüber von der obersten Sprosse in den tiefsten, stinkenden Sumpf.
Und jetzt begriffen alle, die Avantgarde und das Fußvolk und sogar die untergangsgeweihten Bewohner des Archipels: Eine neue Zeit ist angebrochen!
Auf dem Archipel wirkte der Sturz Berijas wie ein Donnerschlag: War er doch der oberste Schirmherr und Statthalter des Archipels gewesen! Die MWD-Offiziere waren überrascht, verwirrt und verstört. Als der Rundfunk die Meldung gebracht hatte, da sagte Oberst Tschetschew mit bebenden Lippen: «Alles ist aus.» (Doch er irrte.)
12
Die vierzig Tage von Kengir
Doch der Sturz Berijas hatte für die Sonderlager auch eine andere Seite: Er gab der Katorga Zuversicht und irritierte, verwirrte, schwächte sie dadurch. Es ergrünte die Hoffnung auf baldige Veränderung. Der Haß hatte nachgelassen.
In jenem schicksalsschweren Jahr 1953 mußte das Bewachungsministerium rasch und augenfällig seine Ergebenheit und Existenznotwendigkeit beweisen. Aber wie?
Jene Lagerrevolten, die die Bewacher bis dahin als
Weitere Kostenlose Bücher