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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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von Mitgefühl übermannt: «Werden wir klären, werden wir klären!» – «Unmenschen!» ruft Ljuba Berschadskaja dem General zu. Die anderen rufen: «Laßt die Baracken offen!» – «Werden sie offen lassen.» – «Nehmt uns die Nummern ab!» – «Wird geschehen, die Nummern kommen weg», versichert der General, den wir noch nie gesehen haben (und nie mehr sehen werden). «Die Durchbrüche zwischen den Zonen sollen bleiben!» tönt es, immer frecher. «Wir wollen Kontakt miteinander haben.» – «Gut, könnt ihr haben», verspricht der General. «Die Durchbrüche bleiben.» Ja, Brüder, was brauchen wir dann noch? Wir haben doch gesiegt!! Wir haben einen Tag unserer Wut freien Lauf gelassen – und haben gesiegt! Und wenn auch manche unter uns den Kopf schütteln und sagen: Betrug, Betrug! – Wir glauben! Wir glauben unserer letzten Endes nicht schlechten Obrigkeit! Wir glauben deshalb, weil das der leichteste Ausweg aus unserer Lage ist …
    Denn was bleibt den Unterdrückten anderes übrig als zu glauben? Betrogen zu werden – und wieder zu glauben. Und wieder betrogen zu werden – und wieder zu glauben.
    Und am Dienstag, dem 18. Mai, rückten die Häftlinge aller Lagerpunkte zur Arbeit aus, sie hatten sich mit ihren Toten abgefunden.
    An diesem Morgen hätte noch alles ruhig enden können! Doch die hohen Generäle, die in Kengir versammelt waren, hätten einen solchen Ausgang, als Niederlage betrachtet. Sie konnten doch nicht ernsthaft den Häftlingen recht geben!
    Als am Abend die Häftlinge, die ihr Tagwerk dem Staat dargebracht hatten, ins Lager zurückkamen, trieb man sie eilig zum Abendessen, um sie möglichst rasch, bevor sie sich besännen, einzusperren. Nach dem Kampfplan der Generäle war es wichtig, diesen ersten Abend zu gewinnen, an dem der Betrug nach den gestrigen Versprechungen zu offenkundig war – und dann würde schon alles ins Geleise kommen.
    Doch als die Dunkelheit einbrach, ertönten die gleichen trillernden Räuberpfiffe wie am Sonntag, die Dreier-Zone begann, die Zweier antwortete, es war, als würden sich alle Halbstarken einer Stadt ein Stelldichein geben.
    Das Lager gehörte wieder den Seki, doch sie waren voneinander abgeschnitten. Die MG-Schützen eröffneten das Feuer auf alle, die sich an die Zwischenzonenmauern heranmachten. Einige wurden getötet, einige verwundet. Die Lampen waren wieder mit Steinschleudern kaputtgeschossen worden, doch die Wachtposten ließen Leuchtraketen steigen.
    Mit langen Tischen rammten sie die Vorzonensperre, doch es war unmöglich, im MG-Feuer die Mauer zu durchbrechen oder darüberzuklettern – das hieß also, sie mußten unter der Mauer durch. Wie immer gab es in der Zone keine Spaten, außer den Feuerwehrschaufeln. So wurde mit Küchenmessern und Blechschüsseln gegraben.
    In dieser Nacht vom 18. auf den 19. Mai wurden alle Lagerpunkte und der Wirtschaftshof durch Stollen miteinander verbunden. Die Wachttürme hörten jetzt auf zu schießen, im Wirtschaftshof fand sich Werkzeug, soviel man brauchte. Und im Nu war die ganze Vortagsarbeit der Epauletten-Maurer beim Teufel. Im Schutz der Nacht wurden die Vorzonen niedergerissen, die Mauern durchbrochen und die Öffnungen erweitert, damit sie nicht zur Falle werden.
    In dieser Nacht wurde auch die Mauer zur Gefängniszone durchbrochen. Die Aufseher, die das Gefängnis bewachten, flüchteten. Die Häftlinge verwüsteten die Arbeitsräume der Untersuchungsbeamten. Aus dem Gefängnis wurden auch jene befreit, die am nächsten Tag die Führung des Aufstandes übernehmen sollten: der ehemalige Oberst der Roten Armee Kapiton Kusnezow und der ehemalige Oberleutnant der Roten Armee Gleb Slutschenkow.
    Flieht doch der Ausbrecher, um wenigstens einen Tag lang Freiheit zu erleben! So war auch das, was diese achttausend machten, nicht so sehr Aufruhr, als Flucht in die Freiheit, wenn auch nur für kurze Zeit! Achttausend Sklaven wurden plötzlich frei und erhielten die Möglichkeit – zu leben! Die Verbitterung auf den Gesichtern löste sich zu einem warmen Lächeln. Die Frauen erblickten die Männer, und die Männer nahmen sie bei der Hand. Jene, die auf geheimen Wegen miteinander korrespondiert hatten, ohne sich je zu sehen – lernten sich jetzt kennen! Jene Litauerinnen, die von den Priestern über die Mauer hinweg getraut worden waren, sahen jetzt ihre kirchlich rechtmäßigen Männer – und ihre Ehe stieg von Gott zur Erde herab! Die Sektenanhänger und Gläubigen konnten sich das erste Mal in

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