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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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ihrem Leben ungehindert zum Gebet versammeln. Die Ausländer, die vereinzelt und in den Zonen verstreut gewesen waren, fanden einander und sprachen in ihrer Sprache über diese merkwürdige asiatische Revolution. Alle Lebensmittelvorräte waren in den Händen der Häftlinge. Niemand trieb sie auf den Appellplatz und zur elfstündigen Arbeitsschicht.
    Über dem schlaflosen, aufgewühlten Lager, das die Hundenummern von sich gerissen hatte, brach der Morgen des 19. Mai an. Viele holten sich ihre eigene Kleidung aus dem Magazin und zogen sie an. Einige Chlopzy setzten ihre Fellmützen auf. (Bald tauchten auch bestickte Hemden, farbige Kaftane und Turbane auf, das grau-schwarze Lager begann zu blühen.)
    Die Stubendienstleute gingen durch die Baracken und riefen die Häftlinge in die große Kantine, wo die Kommission gewählt wurde – die Kommission zur Verhandlungsführung und Selbstverwaltung (so bescheiden, so ängstlich benannte sie sich).
    Sie wurde vielleicht nur für ein paar Stunden gewählt, doch es war ihr bestimmt, vierzig Tage lang die Regierung des Lagers Kengir zu sein.

    Die Tage vergingen. Die Generäle mußten zu ihrer Enttäuschung erkennen, daß die Häftlinge nicht übereinander herfielen und einander nicht abschlachteten, daß sich das Lager nicht von selbst auflöste und daß es keinen Anlaß gab, Truppen zu Hilfe zu schicken.
    Das Lager hielt sich, und die Verhandlungen wechselten ihren Charakter. Die Goldbetreßten kamen weiterhin, in verschiedener Zusammensetzung, zu Gesprächen und Überzeugungsversuchen in die Zone. Man ließ sie alle passieren, doch sie mußten mit einer weißen Fahne in der Hand kommen, und mußten sich vor der Barrikade des Wirtschaftshoftores (jetzt Haupteingang des Lagers) durchsuchen lassen. Dafür garantierte ihnen der Stab der Meuterer persönliche Sicherheit!
    Man führte die Generäle durch das Lager (natürlich nicht in die Sperrzone des Wirtschaftshofs), ließ sie mit den Häftlingen sprechen und berief für sie große Versammlungen in den Lagerpunkten ein. Auch hier saßen die Herren am Präsidiumstisch, im Glanz ihres Uniformgoldes, so wie eh und je, als ob nichts geschehen wäre.
    Damit weniger ungereimtes Geschrei gemacht werde, gab man diesen Gesprächstreffen die Form direkter Verhandlungen nach hohem diplomatischen Protokoll: An einem Junitag wurde in der Frauenzone ein langer Kantinentisch aufgestellt, auf der einen Seite nahmen die Goldtressen Platz; hinter ihnen standen MP-Schützen, die als Schutzwache zugelassen worden waren. Auf der anderen Seite die Mitglieder der Kommission; sie hatten ebenfalls eine Schutzwache, die mit Säbeln, Lanzen und Schleudern bewaffnet war. Dahinter drängten sich die Seki, um dem Palaver zuzuhören, und kommentierten es mit Zwischenrufen. (Es war sogar für Imbiß gesorgt!)
    Die Forderungen bzw. Bitten der Aufständischen waren schon in den ersten zwei Tagen beschlossen worden und wurden jetzt immer wieder vorgetragen:
Bestrafung des Mörders des Evangelisten;
Bestrafung aller, die am Massaker im Wirtschaftshof in der Nacht von Sonntag auf Montag beteiligt gewesen waren;
Bestrafung jener, die die Frauen mißhandelt hatten;
Rückstellung jener Kameraden, die wegen des Streiks rechtswidrig in geschlossene Gefängnisse gebracht worden waren;
Abschaffung der Nummern, Entfernung der Gitter aus den Barackenfenstern, Offenlassen der Baracken;
freier Durchgang zwischen den Lagerpunkten;
achtstündiger Arbeitstag, wie draußen;
Erhöhung des Arbeitslohns (von einer Gleichstellung mit den Freien war nicht mehr die Rede);
freier Briefwechsel mit den Verwandten und Besuchsrecht;
Überprüfung der Urteile.
    Und obwohl keine dieser Forderungen an den Grundfesten des Staates rüttelte oder der Verfassung widersprach (viele waren nichts anderes als Bitte um Wiederherstellung des alten Zustandes), war es für die Herren unmöglich, auch nur die geringste von ihnen zu akzeptieren, denn diese Glatzen und Specknacken hatten es längst verlernt, ihre Fehler oder ihre Schuld einzugestehen. Und die Wahrheit, so sie nicht aus den Geheiminstruktionen der höheren Instanzen, sondern aus dem Munde des gemeinen Volkes sprach, war für sie abscheulich und fremd.
    Doch diese sich immer mehr in die Länge ziehende Belagerung von achttausend Häftlingen war für die Generäle nicht sehr ruhmvoll, konnte ihrem Ansehen und ihrer Stellung schaden, und daher begannen sie zu versprechen. Sie versicherten, daß fast alle Forderungen erfüllt werden könnten,

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