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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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nahm es zur Wissenschaft vergangener Jahrhunderte Zuflucht. Aus Zigarettenpapier wurde nach dem Vorbild der Brüder Montgolfier ein riesiger Ballon geklebt und daran ein Bündel Flugblätter befestigt. Der Ballon hatte eine Öffnung, unter der ein Becken mit glosenden Kohlen angebracht war, der aufsteigende Heißluftstrom füllte die Kugel. Zum großen Gaudium der versammelten Häftlinge (wenn sich Häftlinge einmal freuen, dann wie kleine Kinder) hob sich dieses wundersame aeronautische Gefährt vom Boden und begann zu fliegen. Doch o weh! – noch bevor es Höhe gewonnen hatte, wurde es vom Wind erfaßt und gegen den Zaun getrieben, das Kohlebecken blieb am Stacheldraht hängen, der Heißluftstrom brach ab, die Kugel fiel in sich zusammen und verbrannte samt den Flugblättern.
    Nach diesem Mißerfolg ging man dazu über, Ballons mit Rauch zu füllen. Bei günstigem Wind flogen diese Bollons nicht übel, und in der Siedlung konnte man die Aufschriften lesen:
Rettet Frauen und Greise vor Mißhandlung!
Wir fordern die Entsendung eines Mitgliedes des Präsidiums des ZK!
    Doch die Ballons wurden von den Wachsoldaten abgeschossen.
    Da meldeten sich tschetschenische Häftlinge in der technischen Abteilung und schlugen vor, Papierdrachen zu bauen (sie können das meisterhaft). Diese Idee wurde erfolgreich verwirklicht. Man baute Drachen und ließ sie über der Siedlung steigen, am Rahmen waren ein Bündel Flugblätter und eine Auslösevorrichtung angebracht. Wenn der Drachen eine günstige Position erreicht hatte, wurden die Flugblätter ausgeklinkt. Von einem Barackendach aus beobachtete man, was dann geschah. Gingen die Flugblätter in der Nähe des Lagers nieder, wurden sie von Aufsehern zu Fuß eingesammelt, gingen sie in größerer Entfernung nieder, machten sich Motorradfahrer und Reiter auf die Suche. Auf jeden Fall wollten die Lagerherren verhindern, daß die freien Bürger mit der Wahrheit in Berührung kamen. (Auf den Flugblättern wurde der Finder gebeten, sie an das ZK weiterzuleiten.)
    Auf die Drachen wurde ebenfalls geschossen, aber sie waren gegen Kugeln weniger empfindlich als die Ballons. Bald fand der Gegner eine Bekämpfungsmethode, die billiger kam, als Scharen von Aufsehern herumzujagen: Man ließ Gegendrachen steigen, um die Lagerdrachen abzufangen und niederzuziehen.
    Krieg mit Papierdrachen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts! – und das alles gegen ein Wort der Wahrheit …
    Die technische Abteilung hatte inzwischen auch die berüchtigte «Wunderwaffe» entwickelt. Als Material dienten Winkelrohre aus Aluminium, die für Viehtränkanlagen bestimmt waren. Die Rohre wurden mit einer Mischung aus Zündholzschwefel und etwas Kalziumkarbid gefüllt. So entstanden Wurfgranaten, die, wenn man sie zündete, kurze Zeit später mit fauchendem Geräusch explodierten.
    Doch es waren weder diese glücklichen Schlauköpfe noch der Gefechtsstab in der Banja, die Zeit, Ort und Form des Losschlagens bestimmen sollten. Seit Beginn der Revolte waren etwa zwei Wochen vergangen, als in einer der stockfinsteren, durch nichts erhellten Nächte plötzlich an mehreren Stellen dumpfe Schläge gegen die Lagermauer ertönten. Diesmal waren nicht Ausbrecher und Revoltierer die Mauerstürmer, sondern die Wachmannschaften!
    Am Morgen stellte ich heraus, daß der Gegner an verschiedenen Stellen die äußere Zonenmauer durchbrochen hatte. Es waren etwa zehn Öffnungen entstanden, zusätzlich zu den schon bestehenden und verbarrikadierten Lagereingängen. (Draußen lag vor jeder Öffnung der MG-Posten, um sie von den Seki freizuhalten.) Das diente natürlich als Vorbereitung für einen Angriff, und im Lager setzte hektische Gegenaktivität ein. Der Stab beschloß, die Zwischenzonenwände und Lehmziegelanbauten abzutragen, eine zweite umlaufende Hauptmauer zu errichten und diese in der Höhe der Durchbrüche durch Lehmziegelwälle (zum Schutz gegen die MGs) zu verstärken.
    So drehte sich der Spieß um! Die Bewacher demolierten die Zone, die Häftlinge bauten sie wieder auf, und die Kriminellen halfen ruhigen Gewissens mit, denn das verstieß nicht gegen ihr Gesetz.
    Jetzt mußten vor den Durchbrüchen zusätzliche Wachtposten aufgestellt werden, und jedem Zug wurde ein Durchbruch zugewiesen, wo er in der Nacht im Alarmfall Verteidigungsstellung zu beziehen hatte.
    Die Seki bereiteten sich allen Ernstes darauf vor, mit Lanzen gegen Maschinengewehre zu kämpfen.
    Einmal griff der Gegner an, mitten am Tag. Gegenüber dem

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