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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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nur der freie Zugang zur Frauenzone sei kaum zu realisieren, das sei vorschriftswidrig (als ob es in den ITL zwanzig Jahre lang anders gewesen wäre!), aber man könnte eine Lösung suchen, zum Beispiel, Begegnungstage arrangieren. Auch mit der sofortigen Einsetzung einer Untersuchungskommission im Lager waren die Generäle plötzlich einverstanden. (Doch Slutschenkow durchschaute die Absicht und ließ es nicht dazu kommen: Unter dem Vorwand, Zeugenaussagen zu machen, würden die Spitzel alles verraten, was in der Zone geschieht.) Überprüfung der Verfahren? Natürlich würden auch die Verfahren überprüft werden, nur brauche das seine Zeit. Was jedoch unverzüglich geschehen müsse – zur Arbeit ausrücken! zur Arbeit! zur Arbeit!
    Doch die Seki wußten bereits, was das bedeutet: Die Arbeitskolonnen in die Steppe führen, mit Waffengewalt zu Boden zwingen, die Rädelsführer verhaften.
    «Nein!» antworteten sie über den Tisch. «Nein!» tönte es aus der Menge. «Die Step-Lag-Verwaltung hat uns provoziert! Wir glauben der Leitung des Step-Lag nicht! Wir glauben dem MWD nicht!»
    « Nicht einmal dem MWD wollt ihr glauben?» staunte der Vizeminister und wischte sich über die Stirn. «Ja, wer hat euch denn diesen Haß gegen das MWD eingepflanzt?»
    Ein Rätsel.
    Überhaupt gab es Wochen, da der ganze «Krieg» den Charakter eines Propagandakrieges hatte. Das Radio der Lagerherren dröhnte ununterbrochen. Über mehrere Lautsprecher, die rund um die Zone aufgestellt waren, wurden abwechselnd Appelle an die Häftlinge, Information und Desinformation gesendet. Dazwischen spielte man ein, zwei abgeleierte Platten, die schon nicht mehr zu ertragen waren.
    «Geht ein Mädchen übers Feld,
    Bin verliebt in ihre Zöpfe.»
    (Übrigens, auch um einer so bescheidenen Ehre wie Platten-Vorspielen teilhaftig zu werden, mußten wir zuerst einen Aufstand machen. Solange wir auf Knien lagen, hatte man uns nicht einmal diesen Dreck vorgespielt.) Diese Platten hatten, ganz im Geiste unserer Zeit, auch Störsenderfunktion – auf diese Weise wurden jene Sendungen des Lagerradios gestört, die für die Konvoimannschaften bestimmt waren.
    Die Lagerherren versuchten, über das Radio die Bewegung zu diffamieren, indem sie behaupteten, das Ganze sei nur begonnen worden, um zu vergewaltigen und zu plündern. Oder sie versuchten, Gemeinheiten über einzelne Mitglieder der Kommission zu verbreiten. Und immer wieder Aufrufe an die Häftlinge: Arbeiten! Arbeiten! Warum soll die Heimat euch erhalten? Wenn ihr nicht arbeitet, fügt ihr dem Staat gewaltigen Schaden zu! (Das sollte Herzen erschüttern, die zu ewiger Katorga verdammt waren!) Ganze Kohlenzüge warteten darauf, entladen zu werden! (Sollen sie warten! lachten die Seki. Gebt unseren Forderungen rascher nach! Doch so weit dachten sie nicht, daß die Goldtressen selbst entladen könnten, wenn sie schon so besorgt sind.)
    Die technische Abteilung blieb die Antwort nicht schuldig. Im Wirtschaftshof fanden sich zwei Filmvorführapparate. Die Verstärker wurden als Lautsprecher verwendet, hatten allerdings geringere Leistung. Gespeist wurden sie von dem geheimen Kraftwerk! (Daß die Aufständischen über elektrischen Strom und Radio verfügten, erstaunte die Lagerherren und beunruhigte sie sehr. Sie fürchteten, die Meuterer könnten einen Sender einrichten und das Ausland informieren. Dieses Gerücht wurde auch im Lager aufgebracht.)
    Das Lagerradio hatte seinen eigenen Sprecher. Neben Nachrichten wurde eine «Funkzeitung» gesendet, außerdem gab es täglich eine Wandzeitung mit Karikaturen. «Krododilstränen» nannte sich eine Sendung, in der die Aufseher verhöhnt wurden: wie sie um das Schicksal der Frauen besorgt sind, nachdem sie sie selbst verprügelt haben.
    Doch die Anlage war zu schwach, um auch die Mitfühlenden zu erreichen, die es in Kengir gab – die freien Siedlungsbewohner (viele von ihnen hatten selbst gesessen und lebten jetzt als Verbannte). Sie wurden dort in der Siedlung von den Behörden verhetzt, es wurde ihnen eingeredet, daß im Lager blutgierige Banditen und lüsterne Dirnen regieren, daß dort Unschuldige gefoltert und bei lebendigem Leibe in den Heizkesseln verbrannt werden.
    Wie groß war der Wunsch, ihnen über die Mauer zuzurufen: «Brüder! Wir wollen nur Gerechtigkeit! Man hat Unschuldige getötet, man hat uns schlimmer als Hunde behandelt! Hier sind unsere Forderungen …»
    Da dem Ingenium der Lagertechniker die Mittel der modernen Wissenschaft fehlten,

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