Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
Balkon der Lagerverwaltung, auf dem sich gulagische und staatsanwaltschaftliche Rangträger mit Fotoapparaten und Filmkameras drängten, ließ man eine Abteilung MP-Schützen durch eine der Öffnungen vorrücken. Die Soldaten beeilten sich nicht sonderlich, sie drangen nur so weit vor, wie es notwendig war, um im Lager Alarm auszulösen. Als die Züge, die die Öffnung zu verteidigen hatten, mit Lanzen und Steinen bewaffnet, herbeigestürzt kamen und die Barrikade besetzten – da begannen auf dem Balkon die Filmkameras zu surren und die Fotoapparate zu klicken (die MP-Schützen kamen nicht ins Bild). Und die Regimeoffiziere, Staatsanwälte, Politfunktionäre, und wer dort noch stand, alles Parteimitglieder – sie lachten über das seltsame Schauspiel, das diese ergrimmten Urmenschen mit ihren Lanzen boten. Sie, die Satten, Schamlosen, Hochgestellten, machten sich vom Balkon aus lustig über ihre hungernden und betrogenen Mitbürger und fanden das Ganze äußerst komisch.
Die Aufseher versuchten jetzt, sich durch die Maueröffnungen Gefangene zu angeln, um von ihnen Informationen zu erhalten. Sie schlichen sich an die Öffnungen heran und warfen Seilschlingen mit Haken, als würden sie wilde Tiere oder den Schneemenschen jagen.
Vor allem rechnete man jetzt aber mit Überläufern. Aus den Lautsprechern tönte es: Besinnt euch! Verlaßt durch die Maueröffnungen die Zone! An diesen Stellen wird nicht geschossen! Wer das Lager verläßt, wird nicht wegen Meuterei verfolgt werden!
Die Kommission antwortete über das Lagerradio: Wer sich in Sicherheit bringen will, kann auch die Haupteinfahrt benutzen, wir halten niemand zurück!
Und nur ein Dutzend Häftlinge floh während dieser Wochen aus dem Lager.
Warum blieben die anderen? Glaubten sie wirklich an einen Sieg? Nein. Waren sie nicht niedergedrückt von der Erwartung der Strafe? Sie waren es. Wollten sie sich denn nicht im Interesse ihrer Familien retten? Sie wollten es. Und vielleicht haben Tausende im geheimen daran gedacht und sich gequält. Und was die ehemaligen Minderjährigen betrifft, so hatten sie einen völlig legitimen Grund, das Lager zu verlassen. Doch die gesellschaftliche Temperatur, die auf diesem Fleck Erde herrschte, war so gesteigert, daß die Herzen der Menschen, wenn nicht umgeschmolzen, so doch aufgeschmolzen wurden, und jene niederen Gesetze: «Man lebt doch nur einmal», das Sein bestimmt das Bewußtsein, und die Sorge um die eigene Haut macht den Menschen feig – hatten für diese kurze Zeit auf diesem engen Raum ihre Gültigkeit verloren. Die Gesetze des Lebens und der Vernunft befahlen den Menschen, entweder gemeinsam zu kapitulieren oder einzeln zu fliehen, doch sie kapitulierten nicht und flohen nicht! Sie hatten jene geistige Höhe erreicht, aus der man den Henkern zuruft:
«Hol euch der Teufel! Macht mit uns, was ihr wollt!»
Und die ganze Operation, die so gut überlegt war: die Häftlinge würden wie die Ratten aus den Mauerlöchern kommen, und die paar Hartnäckigen, die zurückbleiben, würden dann erledigt werden – diese ganze Operation scheiterte, weil sie von Menschen ersonnen worden war, die nur niedrige Motive kannten.
Niemand unterstützte die Insel Kengir. Der Weg hinaus in die Wüste war bereits versperrt: Es waren Truppen eingetroffen, die in der Steppe zelteten. Das ganze Lager wurde zusätzlich mit einem zweifachen Stacheldrahtverhau umgeben. Es blieb nur ein schwacher rosa Schimmer: Der gnädige Herr (man erwartete Malenkow), er wird kommen und Recht schaffen. Aber zu rosa war dieser Schimmer, und zu sehr Schimmer.
Sie hatten nicht Gnade zu erwarten. Sie hatten die letzten freien Tage zu leben und sich dann den Häschern des Step-Lag zu ergeben.
Und wie immer gab es Menschen, die die Spannung nicht ertrugen. Und andere waren innerlich schon niedergeworfen und litten darunter, daß die tatsächliche Niederwerfung so lange auf sich warten ließ. Andere wieder stellten mit heimlicher Genugtuung fest, daß sie sich an nichts beteiligt hatten und, wenn sie weiter schön vorsichtig wären, auch unbeteiligt bleiben würden. Und dann gab es die Jungverheirateten; sie waren sogar nach richtigem Hochzeitsritus getraut, eine Westukrainerin würde auch nicht anders heiraten, und der GULAG hatte dafür gesorgt, daß im Lager Geistliche aller Religionen vertreten waren. Diese jungen Paare erlebten Süße und Bitternis in einer Verquickung, wie sie die Menschen in ihrem gemächlichen Leben nicht kennen. Jeden Tag mußten
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