Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
sie damit rechnen, daß es der letzte war, und wenn die Vergeltung ausblieb, war es für sie jedesmal ein Geschenk des Himmels.
Die Gläubigen beteten und legten den Ausgang der Wirrnis in Gottes Hand. Wie immer waren sie die Ausgeglichensten. In der großen Kantine wurden nach einer bestimmten Ordnung Gottesdienste aller Religionen gehalten. Die Zeugen Jehovas bestanden auf ihren Prinzipien und weigerten sich, Waffen in die Hand zu nehmen, beim Stellungsbau zu helfen, Wache zu stehen (man ließ sie Geschirr waschen). Sie pflegten stundenlang beisammen zu sitzen und zu schweigen. Ein Prophet ging im Lager um, malte Kreuze an die Wagonkas und sagte den Weltuntergang voraus.
Und es gab die, die wußten, daß sie hoffnungslos verstrickt waren und nur noch die wenigen Tage bis zum Einmarsch der Truppen zu leben hatten. Ihr Denken und Handeln war darauf gerichtet, sich so lange wie möglich zu halten. Doch das waren nicht die Unglücklichsten im Lager. (Die Unglücklichsten waren jene, die unbeteiligt waren und das Ende herbeisehnten.)
Doch wenn sich alle diese Menschen versammelten, um zu entscheiden, ob sie kapitulieren oder weiterkämpfen sollten – da gerieten sie wieder in diese Temperaturzone, in der ihre persönlichen Meinungen schmolzen und sogar für sie selbst zu existieren aufhörten. Oder sie fürchteten den Spott mehr als den nahen Tod.
Und wenn abgestimmt wurde, ob weiterkämpfen oder nicht – stimmte die Mehrheit dafür.
Warum zog sich die Belagerung so lange hin? Worauf mochten die Lagerherren warten? Daß die Nahrungsvorräte zu Ende gingen? Aber sie wußten, daß sie noch lange reichen würden. Nahmen sie auf die Siedlungsbewohner Rücksicht? Das hatten sie nicht nötig. Arbeiteten sie den Plan für die Niederwerfung der Revolte aus? Das hätten sie rascher geschafft. Holten sie oben die Sanktion für die Niederwerfung ein? Wie hoch oben? Wir werden nie erfahren, welche Instanz diese Entscheidung getroffen hat und wann.
Einige Male wurde plötzlich das Außentor des Wirtschaftshofs geöffnet – vielleicht, um die Bereitschaft der Verteidiger zu testen? Die diensthabende Wachtruppe gab Alarm, und die Abteilungen kamen angelaufen. Aber niemand betrat die Zone.
Mitte Juni tauchten in der Siedlung zahlreiche Traktoren auf. Sie wurden im Umkreis der Zone zu irgendwelchen Transportarbeiten verwendet. Sie wurden sogar in der Nacht eingesetzt. Dieser nächtliche Traktorenlärm war unverständlich.
Doch dann kam die große Beschämung für die Skeptiker, für die Mutlosgewordenen, für alle, die da sprachen, daß es keine Gnade gebe und daß Bitten sinnlos sei. Und nur die Orthodoxen hatten Grund zu triumphieren. Am 22. Juni verkündeten die Lautsprecher: «Die Forderungen der Lagerinsassen sind angenommen! Ein Mitglied des Präsidiums des ZK ist auf dem Weg nach Kengir!»
Der rosarote Schimmer wurde zu einer rosaroten Sonne, zu einem rosaroten Himmel! Man kann also doch etwas erreichen! Es gibt also doch noch Gerechtigkeit in unserem Land! Sie werden Konzessionen machen, wir werden Konzessionen machen. Schließlich kann man auch mit Nummern herumlaufen, und die Fenstergitter stören uns auch nicht gerade, wir steigen ja nicht durch Fenster ein. Sie werden uns wieder betrügen? Aber sie verlangen ja nicht, daß wir vorher zur Arbeit ausrücken.
So wie das Elektroskop durch die Berührung mit einem Metallstab entladen wird und seine Blättchen erleichtert absinken und zusammenfallen, so wurde die zehrende Spannung der letzten Woche durch die Lautsprechermeldung gelöst.
Und sogar die widerlichen Traktoren verstummten, nachdem sie am Abend zuvor noch rumort hatten.
Das Lager schlief friedlich in der vierzigsten Nacht der Revolte. Wahrscheinlich wird er morgen kommen, vielleicht ist er schon da …
Im frühen Morgengrauen des 25. Juni entfalteten sich am Himmel die Fallschirme von Leuchtraketen, kleinere Raketen stiegen von den Wachttürmen auf – und die Beobachter auf den Barackendächern wurden von Scharfschützen abgeräumt, noch bevor sie einen Laut von sich geben konnten. Kanonenschüsse ließen die Luft erzittern! Flugzeuge donnerten im Tiefflug über das Lager. Und die ruhmreichen «T-34»-Panzer, die unter dem Tarngeräusch der Traktoren ihre Ausgangsstellung bezogen hatten, rollten von allen Seiten auf die Maueröffnungen zu. (Einer kippte tatsächlich in den Graben hinter der Mauer.) Mehrere Panzer zogen Stacheldraht und spanische Reiter nach sich, um sofort die Zone abzuteilen. Den
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