Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
unbeteiligt gewesen waren.)
Am 26. Juni ließ man von den Häftlingen die Barrikaden wegräumen und die Öffnungen in der Zonenmauer schließen.
Am 27. Juni führte man die Häftlinge zur Arbeit. Es war soweit! Die Kohlenzüge hatten nicht umsonst gewartet!
Die Panzer, die Kengir niedergewalzt hatten, fuhren nach Rudnik und drehten ein paar Runden vor den Augen der Häftlinge. Zur Belehrung …
Sechster Teil
In der Verbannung
1
Die Verbannung
in den ersten Freiheitsjahren
Auf das Verbannen ist die Menschheit wahrscheinlich früher verfallen als aufs Einsperren. Denn schon die Vertreibung aus der Stammesgemeinschaft stellte eine Verbannung dar. Frühzeitig ward erkannt, daß es dem Menschen gar schwer fällt, außerhalb der gewohnten Umgebung und fern des gewohnten Ortes zu leben.
Auch das Russische Reich ließ mit der Verbannung nicht auf sich warten: Durch die Ständeversammlung von 1648 unter Zar Alexej Michailowitsch wurde sie gesetzlich verankert. Doch auch früher schon, Ende des 16. Jahrhunderts, und ohne jegliche gesetzliche Handhabung, waren die in Ungnade gefallenen Einwohner von Kargopol und später jene von Uglitsch – Zeugen des Mordes am Zarewitsch Dmitrij – in die Verbannung geschickt worden. An Platz mangelte es nicht – Sibirien gehörte bereits uns. Insgesamt kam im Laufe des 19. Jahrhunderts eine halbe Million Menschen in die Verbannung, am Ende des Jahrhunderts hatte sie einen Stand von etwa 300 000 erreicht.
Eine selbstverständliche, damals als natürlich empfundene, uns Heutigen wunderlich erscheinende Eigenschaft der Verbannung war im letzten zaristischen Jahrhundert ihre Idividualität: ob durch ein Gericht, ob auf dem Verwaltungswege verhängt – sie wurde für jeden persönlich und einzeln bemessen, niemals aber nach irgendeiner Gruppenzugehörigkeit.
Die Bedingungen der Verbannung änderten sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, bald waren sie härter, bald milder, so kommt es, daß uns verschiedene Generationen von Verbannten unterschiedliche Zeugnisse hinterließen. Hart setzte den Bestraften die Art der Beförderung zu, allerdings können wir sowohl bei Pjotr Jakubowitsch als auch bei Lew Tolstoi nachlesen, daß die Transportbedingungen für die Politischen erträglich waren …
Diese Art sanfter Verbannung wurde nicht allein vornehmen und berühmten Männern zuteil. Auch im 20. Jahrhundert kamen viele Revolutionäre und Querköpfe in ihren Genuß, insbesondere die Bolschewiki, man hatte vor ihnen keine Angst. Was geschah Stalin nach vier erfolgreichen Ausbrüchen? Nichts Schlimmeres als das: Er kam nach Wologda, seinem fünften Verbannungsort.
Doch auch diese Verbannung, eine nach unseren heutigen Vorstellungen privilegierte Verbannung, bei der niemand Gefahr lief, Hungers zu sterben, empfanden die Bestraften mitunter als schwere Belastung. Viele Revolutionäre erinnern sich daran, wieviel Pein ihnen die Verlegung aus dem Gefängnis in die Verbannung brachte: Dort hatten sie ihr sicheres Stück Brot, einen geheizten Raum, ein Dach über dem Kopf und Freizeit genug für Fortbildung und Parteidispute, hier nun hieß es, sich allein und unter fremden Menschen um Tisch und Dach zu kümmern. Wo indes die Mittel für den Lebensunterhalt zur Verfügung standen, soll es, so Felix Kon, noch schlimmer gewesen sein: «Die Qualen des Nichtstuns … Am furchtbarsten ist, daß die Menschen zur Untätigkeit verdammt sind.» So wenden sich denn manche der Wissenschaft, andere dem Geld-und Geschäftemachen zu – und die dritten ertränken ihre Verzweiflung im Wodka.
Eben darin liegt die düstere Kraft der Verbannung, schlicht darin, daß man verschleppt und mit Fesseln an den Füßen anderswo ausgesetzt wird; schon im Altertum ist ihre Last von den Machtbeflissenen erkannt worden, schon Ovid hat sie zu spüren bekommen.
Leere. Öde. Verlorenheit. Ein Leben, das gar nicht Leben genannt werden kann …
Kaum waren die ersten Schritte auf wackeligen Beinchen getan, als die Revolution, noch nicht flügge geworden, begriff: Ohne Verbannung geht es nicht! Hier im Wortlaut eine Äußerung des Volksheroen und späteren Marschalls über das Jahr 1921 im Tambower Gouvernement: «Es war beschlossen worden, eine breitangelegte Verschickung von Angehörigen der Banditen [lies «Partisanen»] zu organisieren. Es wurden umfangreiche Konzentrationslager eingerichtet, in denen man die Familien fürs erste festhielt.»
Einzig die Bequemlichkeit der sofortigen Erschießung, durch die der Abtransport, die
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