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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Fütterung und die Bewachung unterwegs, die Ansiedlung am Zielort und die auch dort wieder erforderliche Bewachung hinfällig wurden, einzig dieser Vorzug verzögerte die Einführung der regulären Verbannung bis zum Ende des Kriegskommunismus. Allerdings wurde bereits am 16. Oktober 1922 beim Innenministerium eine ständige Kommission für die Verschickung von «sozialgefährlichen Personen und Funktionären antisowjetischer Parteien» gegründet; drei Jahre waren die gängigste Straffrist. Somit war die Verbannung bereits in den allerfrühesten zwanziger Jahren zu einer gewohnten und reibungslos funktionierenden Einrichtung geworden.
    Die menschliche Gutgläubigkeit brauchte indes lang, ehe sie das Vorhaben der Macht durchschaute. Die Macht war einfach zu schwach, um alle unerwünschten Bürger auf einen Schlag auszurotten. Drum riß sie die Gezeichneten noch nicht aus dem Leben, bloß aus dem Gedächtnis der Mitmenschen heraus.
    Die Tradition der Verbannung barg jedoch auch ein Hemmnis, nämlich eine gewisse materielle Unselbständigkeit der Zwangsverschickten, die da meinten, der Staat sei verpflichtet, sie durchzufüttern. Die zaristische Regierung wagte es nicht, die Verbannten zur Vermehrung des Nationalprodukts zu zwingen. Und die Berufsrevolutionäre hätten sich durchs Arbeiten erniedrigt gefühlt. Auch Lenin erhielt während der Verbannung in Schuschenskoje 12 Rubel im Monat (die er nicht ausschlug). Es ist jedoch bekannt, daß die Preise in Sibirien um das Zwei-bis Dreifache unter jenen im russischen Mutterland lagen, woraus wir schließen dürfen, daß der Unterhalt, den der Staat einem Verbannten gewährte, sogar mehr als reichlich bemessen war. Lenin beispielsweise kannte keine Not und konnte sich, ohne einen Gedanken ans Geldverdienen zu verschwenden, in allen drei Jahren mit der Revolutionstheorie befassen.
    1929 ging man daran, die Verbannung als Bestandteil der Zwangsarbeit auszubauen.
    Die Verbannung war – die vorläufige Einzäunung der fürs Messer bestimmten Schafe. Die Verbannten der ersten sowjetischen Jahrzehnte waren nicht Einwohner, sondern Abwarter – bis die Vorladung nach dorthin kam. (Kluge Leute gab es unter ihnen, Ehemalige, aber auch einfache Bauern, die schon vor 1930 den weiteren Ablauf erfaßt hatten. Also ließen sie sich nach der ersten dreijährigen Verbannung sicherheitshalber gleich an Ort und Stelle, in Archangelsk beispielsweise, nieder. Manchen half es, das Spätere ungeschoren zu überdauern.)
    In solch gewandelter Gestalt trat uns die friedliche Verbannung entgegen …
    Dies war die Last, die man uns als Draufgabe zu Ovids Sehnsucht aufgebürdet hatte.

2
Die Bauernpest
    Es wird um Geringes gehen in diesem Kapitel. Um fünfzehn Millionen Seelen. Um fünfzehn Millionen Leben.
    Sind freilich ungebildete Leute gewesen. Haben sich aufs Geigespielen nicht verstanden.
    Der ganze Erste Weltkrieg hat uns drei Millionen Tote gekostet. Der ganze Zweite – zwanzig Millionen (so – laut Chruschtschow, laut Stalin warn’s nur sieben. Ist Nikita allzu spendabel gewesen? Oder hat Jossif im Kassabuch eine Seite überschlagen?). Doch wie zahlreich sind die Oden! Wie zahlreich die Obelisken, die ewigen Flammen, Romane und Poeme! – Ach was, ein Vierteljahrhundert lang war die gesamte Sowjetliteratur nur mit diesem Blut allein getränkt worden.
    Über jene schweigsame, verräterische Pest aber, die uns fünfzehn Millionen Muschiks weggefressen hat, nicht wahllos zudem, sondern mit Bedacht nach den Besten, dem Grundstock des russischen Volkes schnappend – über jene Pest finden wir keine Bücher. Niemand bläst die Fanfare, uns wachzurütteln. Und an den Gabelungen der Feldwege, wo die Leiterwagen der Verdammten vorbeigeknarrt waren, hat niemand auch nur Steinchen hingeworfen. Und unsere trefflichsten Humanisten, so empfindlich für die heutigen Ungerechtigkeiten, haben in jenen Jahren nur zustimmend genickt: Nichts Unrechtes ist dran! Sie haben’s verdient!
    Und so heimlich ward ans Werk gegangen, so gründlich alles zusammengeputzt, so erfolgreich jedes Flüstern erstickt.

    Womit hat dies alles begonnen? Ob mit dem Dogma, daß das Bauerntum Kleinbürgertum ist! (Und was gehört denn bei ihnen nicht zum «Kleinbürgertum»? Nach ihrem wunderbar klaren Schema ist alle Welt mit Ausnahme der Fabrikarbeiter, aus denen sie wiederum die Facharbeiter ausklammern, und der Großunternehmer, alles also, was übrigbleibt, das ganze eigentliche Volk, die Bauern, die Angestellten, die

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