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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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Bauern ans Herz Gewachsenem zeigen: das Vieh, den Hof, den Hausrat, alles, was die weinende Bäuerin auf Befehl zurücklassen muß.
    Auch nicht jene kleinen Bündel wird man uns zeigen, mit denen die Familien den behördlichen Leiterwagen besteigen durften. Und uns nicht darüber berichten, daß im Hause der Twardowskis zur bösen Stunde weder Schmalz noch ein Stückchen Brot zu finden gewesen war; ein Nachbar half aus der Not, der kinderreiche Kusma, auch kein Krösus, brachte ihnen einen Bissen für unterwegs.

    Und die Fahrt selbst, diesen Passionsweg, den bäuerlichen, ihn wollen uns die sozialistischen Realisten schon gar nicht beschreiben. Verladen, abgefertigt – und das Märchen ist zu Ende, und drei Sternchen schließen die Episode.
    Verladen aber wurden sie, wenn’s gut ging, zur Sommerzeit auf Leiterwagen, ansonsten im klirrenden Frost auf Schlitten; Säuglinge, Kleinkinder, Halbwüchsige, alles kam rauf. Durch das Dorf Kotschenewo im Nowosibirsker Gebiet – Februar 1931 war es, Frost und Schneestürme wechselten einander ab – fuhren diese Trecks in endlosen Reihen; Schlitten um Schlitten tauchte, von Wachmannschaften umzingelt, aus der verschneiten Steppe auf und tauchte im Schnee wieder unter. In ein Bauernhaus reinzugehen, um sich aufzuwärmen, war nur mit Zustimmung der Bewacher und für wenige Minuten erlaubt, damit der Zug nicht aufgehalten wurde. Treck um Treck zog in die Sümpfe von Narym – und dort in diesen unersättlichen Sümpfen sind sie alle geblieben. Doch schon vorher, während der grausamen Reise, verreckten die Kinder.
    Das war ja eingeplant: die Bauernbrut gemeinsam mit den Erwachsenen zugrunde gehen zu lassen. Seit des Herodes Zeiten hat uns einzig die Fortschrittliche Lehre vorführen können, wie das Ausrotten anzustellen ist – bis auf den letzten Säugling. Hitler war bereits ein Lehrling, doch er hatte Glück: In aller Welt wurden seine Todesmaschinen berühmt, aber um unsere schert sich niemand.
    Es fällt einem schwer, an so viel Grausamkeit zu glauben: Daß jemand an einem Winterabend in der Taiga sagen könnte – hier bleibt ihr! Ist’s denn möglich, daß Menschen zu derlei fähig sind? Ach was, am Tag wird gefahren, drum kommt man eben am Abend an. Hundertund Aberhunderttausende wurden auf genau diese Art abgeliefert und zurückgelassen, mit Greisen, Frauen und Kindern.
    Als die Pest im Anzug war, 1929, wurden in Archangelsk alle Kirchen gesperrt; die hatte man ohnedies zur Schließung vorgemerkt, und nun war echter Bedarf zu decken: Unterkünfte für die Ausgesiedelten darin zu schaffen. Mächtige Kulakenströme flossen durch Archangelsk, für eine Weile war die ganze Stadt zu einem einzigen großen Durchgangslager geworden. In die Kirchen wurden mehrstöckige Pritschen reingebaut, nur mit dem Heizen haperte es. Im Bahnhof wurde Viehwaggon um Viehwaggon entladen, vom Hundegebell begleitet, trotteten die düster dreinblickenden Bastschuhler zu ihren Kirchenpritschen. (Dem kleinen Sch. ist in Erinnerung geblieben, wie ein Muschik ein Krummholz auf den Schultern mitschleppte – in der Eile des Aufbruchs hatte er nicht erfaßt, was er am dringendsten benötigen würde. Ein anderer trug ein Grammofon samt Hörrohr. Kameraleute, macht euch ans Werk! …) In der Kirche zu Mariä Opferung türmten sich die Pritschen, ohne in der Mauer verankert zu sein, in acht Reihen übereinander, nachts brach das Gerüst und begrub viele Familien unter sich. Die Leute schrien, die Kirche wurde von Truppen umzingelt.
    So lebten sie den ganzen Pestwinter über. Ohne sich zu waschen. Mit Eiterbeulen bedeckt. Flecktyphus kam auf. Der Tod zog um. Den Einwohnern von Archangelsk ward jedoch strengstens untersagt, den Sonderumsied— lern zu helfen! Die sterbenden Landleute schleppten sich durch die Stadt, aber keinem durfte Obdach gewährt werden, auch ihm Essen zu geben oder einen Becher Tee vors Tor zu bringen, war verboten; die Miliz lag auf der Lauer, einem ertappten Einheimischen wurde der Paß entzogen. Da wankt ein ausgehungerter Muschik über die Straße, stolpert, fällt hin – und ist tot. Doch auch einen Toten fortzuschaffen war nicht erlaubt (obendrein wimmelte es von Spitzeln, die paßten auf, ob jemand Mitleid äußerte). Zur gleichen Zeit wurden am Stadtrand die Gärtner und Kleinviehzüchter ausgesiedelt, ganze Dörfer kamen unter den Rechen (wieder die Frage, wer dort wen ausgebeutet hat), und die Städter zitterten selbst ums Daheimbleibendürfen. Die hatten schon Angst,

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