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Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)

Titel: Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Solschenizyn
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ungehemmt sich entfalten!
    Die Altgläubigen! Sie, die ewig Verfolgten, ewig Verbannten, haben um drei Jahrhunderte voraus das verwünschte Wesen der Obrigkeit entschlüsselt! Im Jahr 1950 zog ein Flugzeug über die weite Ebene der Mittleren Tunguska. Da war aber nach dem Krieg die Kunst der Fliegerei wesentlich verbessert worden, drum erspähte der emsige Pilot, was zwanzig Jahre zuvor verborgen geblieben war: Eine unbekannte Ansiedlung mitten in der Taiga. Er vermerkte die Stelle, erstattete Meldung. Tief im Wald lag der Ort und schwer zugänglich, aber fürs Innenministerium gibt es nichts, was unerreichbar wäre; nach einem halben Jahr gelangten seine Abgesandten ans Ziel. Es waren, wie sich herausstellte, Altgläubige aus dem Marktflecken Jarujewo. Als die große, ersehnte Pest (lies: Kollektivierung) über das Land kam, zogen sie sich, vor dieser Wohltat fliehend, mit Sack und Pack, mit Kind und Kegel tief in die Taiga zurück. So lebten sie in aller Stille, schickten lediglich den Starost ab und zu nach Jarujewo, dort Salz zu kaufen, auch Fischerei-und Jagdausrüstung und sonstiges Eisenzeug für ihre Geräte; alles übrige stellten sie selber her, und der Starost wird wohl an Geldes Statt mit Tierfellen beladen worden sein. Seine Erledigungen getan, stahl er sich wie ein gesuchter Verbrecher vom Markt davon. Auf diese Weise hatten die Altgläubigen von Jarujewo zwanzig Jahre Leben gewonnen, zwanzig Jahre eines freien menschlichen Lebens unter wilden Tieren anstelle der zwanzig eintönigen Kolchosjahre. Sie trugen selbstgewebte Kleider, selbstgenähte Schaftstiefel und zeichneten sich durch Bärenkräfte aus.
    Nunmehr also wurden diese widerlichen Deserteure – wollten sich von der Kolchosfront absetzen! – verhaftet und vor Gericht gezerrt. Und was meinen Sie, welchen Strafparagraphen man ihnen präsentierte? Beziehungen zur Weltbourgeoisie? Sabotage? Nein, man wählte den § 58,10, antisowjetische Agitation und den § 58, 11, Bildung einer Organisation. (Etliche landeten später in der Dscheskasgan-Gruppe des Step-Lags, so kam die Geschichte unter die Leute.)
    1946 wurden auch noch andere Altgläubige, die man zuvor unter militärischem Einsatz aus irgendeinem entlegenen Kloster herausgeschossen hatte (mit Minenwerfern bereits, unsere ruhmreichen Truppen machten sich die Erfahrungen des Vaterländischen Krieges zunutze), auf Flößen den Jenissej abwärts befördert. Die unbeugsamen Gefangenen, unter Stalin die gleichen wie unter Peter dem Großen, sprangen ins Wasser, und unsere MP-Schützen schickten ihnen die tödliche Kugel nach.
    Soldaten der Sowjetarmee! Seid unermüdlich bei der Gefechtsausbildung!

3
Die Verbannung bevölkert sich
    Derart grausam wie die Muschiks, derart tief in die Wildnis, derart unverhohlen ins Verderben wurde weder vorher noch nachher jemand verschickt. Nach anderen Maßstäben und eigenen Verfahren wurde indessen Jahr für Jahr Nachschub geliefert: Immer größer und dichter wurde der Einwohnerstand der Verbannung, immer strenger das Verbannungsregime.
    In groben Zügen wäre folgende Periodisierung vorzuschlagen: In den zwanziger Jahren war die Verbannung gleichsam ein provisorischer Umschlagplatz im Vorhof des Lagers: Für die wenigsten bildete sie den Schlußpunkt, fast alle wurden später ins Lager umgeschichtet.
    Seit den mittdreißiger Jahren und insbesondere seit dem Machtantritt Berijas gewann die Verbannung, wohl des großen Menschenzustroms wegen (allein Leningrad hat Unmengen geliefert!), eine durchaus selbständige Bedeutung als durchaus zufriedenstellende Art der Freiheitsbeschränkung und Isolation. Auch Krieg und Nachkrieg brachten eine weitere Festigung ihres Prestiges mit sich: Die Lager trefflich ergänzend, benötigte sie keinen Kostenaufwand für den Bau von Baracken und Zonen, ebensowenig für die Bewachung, und bot dennoch genug Fassungsraum für große, namentlich Frauen-und Kinderkontingente. (In allen bedeutenden Durchgangsgefängnissen waren für Frauen mit Kindern eigene Zellen vorgesehen, die blieben niemals leer.) Durch die Aussiedlung wurde innerhalb kürzester Frist die zuverlässige und unwiderrufliche Säuberung eines jeden wichtigen Gebietes des Mutterlandes sichergestellt.
    Solcherart gefestigt, erlangte die Verbannung bis 1948 auch noch eine neue staatserhaltende Bedeutung als Müllgrube, in die die Abfälle des Archipels geschaufelt wurden, auf daß sie niemals mehr in die Heimat zurückkehrten. Im Frühjahr 1948 wurden die Lager

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