Der Archipel GULAG: Vom Verfasser autorisierte überarbeitete und gekürzte Ausgabe in einem Band (German Edition)
mal stehenzubleiben, über einen Leichnam sich zu beugen.
Von allen vorhergegangenen und nachfolgenden sowjetischen Verbannungen unterschied sich die Austreibung der Bauern dadurch, daß sie nicht in einer Stadt, einem Dorf, einer Siedlung, überhaupt nicht in einer bewohnten Gegend ausgesetzt wurden, sondern – unter den Tieren, dem Wild, in die Urzeit hinein. Nein, schlimmer: In der Urzeit suchten sich unsere Vorfahren zumindest wassernahe Plätze zum Ansiedeln aus. Solange die Menschheit lebt, wurde es niemals anders gehalten. Für die Sondersiedlungen hingegen wählten die Tschekisten – die Muschiks hatten dabei nichts mitzureden – das steinigste Gelände aus. (So am Steilufer der Pinega, hundert Meter über dem Fluß; nach Wasser gräbt man vergebens, kein Halm sprießt aus dem Boden.) Drei oder vier Kilometer weiter konnte es wohl fruchtbare Marschen geben, doch nein, dort war das Ansiedeln laut Instruktion verboten! Zum Heuen mußten die Ansiedler oft zehn Kilometer weit fahren, das Heu in Booten heimbefördern … mitunter wurde ihnen schlankweg verboten, Getreide anzubauen ! (Wie sie zu wirtschaften hatten, bestimmten ebenfalls die Tschekisten.) Auch können wir Städter nicht so recht nachempfinden, was der Umgang mit Vieh für das urtümliche Bauernleben zu bedeuten hat; ohne Vieh ist der Bauer kein Bauer mehr – nun aber waren sie über viele Jahre hinweg dazu verdammt, kein Wiehern, kein Muhen, kein Blöken zu hören; weder zu satteln noch zu melken noch zu tränken.
Am Fluß Tschulym wurde die Sondersiedlung für Kubankosaken mit Stacheldraht umzäunt, gleich einem Lager mit Wachttürmen eingefaßt.
Es war, scheint’s, alles getan worden, damit diese arbeitsgewohnte Sippschaft möglichst schnell ausstürbe und unser Land von sich und vom Brote befreie. Es sind tatsächlich viele dieser Sondersiedlungen zur Gänze ausgestorben. Dort, wo sie einst gestanden haben, verheizen zufällig vorbeiziehende Leute allmählich die Baracken und schießen mit ihren Stiefeln die Schädel beiseite.
Kein Dschingis-Khan hat so viele russische Muschiks unter die Erde gebracht wie unsere ruhmreichen Organe unter der Führung der Partei.
Hier die Tragödie vom Wasjugan. Im Winter 1930 wurden zehntausend Familien (sechzig-bis siebzigtausend Menschen, nach der damaligen Familiengröße gerechnet) durch Tomsk geschleust und zu Fuß weitergetrieben: zunächst die Tom abwärts, dann den Wasjugan hinauf – immer noch über das Wintereis. (Die Einwohner der umliegenden Dörfer wurden angehalten, die Leichen der Erwachsenen und der Kinder einzusammeln.) An den Oberläufen des Wasjugan und der Tara wurden sie inmitten der Sümpfe auf einigen festen Hügeln ausgesetzt und ohne Lebensmittel und Werkzeug zurückgelassen. Das Tauwetter verwandelte die Wege in Schlamm, sie waren von der Außenwelt abgeschnitten, lediglich zwei Knüppeldämme hätten hinausgeführt, der eine nach Tobolsk, der andere an den Ob, da wurden indes MP-Posten aufgestellt, die tödliche Mausefalle schnappte zu. Das große Sterben begann. Die Bauern schleppten sich in ihrer Verzweiflung zu den Wachtposten, flehten und bettelten – und wurden auf der Stelle niedergemäht.
Gestorben sind alle.
Aber die Verschickten lebten trotz alledem! Unter solchen Umständen, es war nicht zu glauben, aber – sie lebten!
Während des Krieges allerdings, als an der Front Mangel an kräftigen russischen Kerlen spürbar wurde, griff man auch auf die «Kulaken» zurück. Undenkbar war’s, daß ihr russisches Gewissen gegenüber dem Kulakengeist nicht die Oberhand gewänne. Da und dort wurden die in Sondersiedlungen und Lagern Festgehaltenen aufgefordert, zur Verteidigung des heiligen Vaterlandes ins Feld zu ziehen.
Und sie zogen hinaus …
Freilich nicht immer. Dem «Kulakensohn» N. Ch-w, dessen Lebenslauf ich zum Teil für den Tjurin im Iwan Denissowitsch verwendet habe – der erste Teil war es, den zweiten darzulegen, hatte ich nicht den Mut –, diesem Ch-w wurde im Lager angeboten, was den Trotzkisten und Kommunisten, so sehr sie auch erpicht drauf waren, versagt blieb: die Heimat mit der Waffe zu verteidigen. Ch-w hatte die Antwort parat. «Ist euer Vaterland», sagte er ohne Umschweife dem Abgesandten der Kontroll-und Erfassungsstelle, «geht hin und verteidigt es, Schleimscheißer ihr! Das Proletariat hat kein Vaterland!»
Es war, möchte man meinen, genau nach Marx gesagt.
Was wäre mit diesem Volk nicht alles zu schaffen, ließe man es frei leben und
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